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Amsterdam 97, Köln 99, dazwischen Brüssel, Luxemburg, Cardiff und Wien. Starke Augenblicke des Netzwerks »Europäische Märsche«, oft dargestellt als ein tatkräftiger Bestandteil der neu entstandenen europäischen sozialen Bewegung [1]. Das Netzwerk ist heute in Europa bekannt, ja sogar darüber hinaus (beispielsweise in Lateinamerika, Nordamerika in Korea und in Japan). Trotzdem ist noch nicht richtig beschrieben, was genau die »Europäischen Märsche« eigentlich sind. Wie funktionieren sie? Wie kann man daran teilnehmen? Wohin gehen sie? Ich werde eine Antwort auf diese Fragen versuchen. Nicht nur für diejenigen, die neu dazustoßen wollen, sondern auch, um in unseren eigenen Reihen eine Auswertung über die jüngste »Vergangenheit« des Netzwerks zu beginnen, über seine Funktionsweise und vor allem darüber, was jetzt auf uns zukommt.
I Wie entstand das Netzwerk »Europäische Märsche gegen Arbeitslosigkeit, ungeschützte Beschäftigungsverhältnisse und Ausgrenzung«?
Die Euromärsche sind zunächst eine Antwort auf eine unausweichliche und dramatische Realität, nämlich das Ansteigen der Massenarbeitslosigkeit in Europa. |
Turin 03/96
[1] Le Monde Diplomatique |
In der Tat, die Grundlage für die Schaffung des Netzwerks Euromärsche liegt zunächst in der objektiven Situation, die seit mehr als zwei Jahrzehnten durch die Offensive der Neoliberalen EU-weit geschaffen wird: Nach dem Nachkriegsboom hörte man sie nur noch reden über Sparpläne, über den Abbau des öffentlichen Dienstes und des sozialen Schutzes, über Schließungen und Zusammenlegungen von Firmen, über Entlassungen und so weiter. All das im Namen des »Standorts«, um die »Wettbewerbsfähigkeit« zu erhalten. Die Einschränkungen heute sollten die Arbeitsstellen von morgen schaffen. Der Zusammenbruch der Staaten in Osteuropa wurde als Bestätigung dafür gesehen, daß nur die Marktwirtschaft funktionieren kann. Das Ergebnis kennen wir: Fast 20 Millionen Arbeitslose und 60 Millionen prekär Beschäftigte in reichsten Kontinent der Erde.
Die traditionellen Gewerkschaften und die »linken« Parteien haben im Glauben, es handele sich um eine vorübergehende Phase - auf diese Situation nicht reagiert. Leider weitet sich die Massenarbeitslosigkeit immer mehr aus, und sie dauert immer länger. Die karitativen Organisationen wurden mehr und schnell überfordert. Selbst in Gebieten, in denen viele Menschen gewerkschaftlich organisiert sind, hat man eine krasse Veränderung in der Arbeitswelt erlebt, und zwar nicht nur wegen der Entwicklung der Arbeit. Sondern auch, weil Millionen von ArbeiterInnen aus dem Arbeitsleben ausgeschlossen wurden und andere, die in Teilzeit und flexibler Arbeitszeit arbeiteten, auch nur noch in eingeschränker Beziehung mit dem Unternehmen stehen. Die gewerkschaftlichen Organisationen beschränkten sich darauf, sich mit den Sozialplänen zu beschäftigen, oder gar den Transmissionsriemen der Neoliberalen zu spielen zumindest einige, insbesondere inmitten der europäischen Institutionen [2]. Die »Arbeitswelt« erlitt eine beispiellose Atomisierung, bei der sie ihr Gedächtnis und die Fähigkeit, auf die Offensiven der Unternehmer zu reagieren, verlor.
Die Euromärsche sind in dieser Situation entstanden, in der eine Antwort auf die neoliberale Offensive am Ende dieses Jahrhunderts aus den traditionellen gewerkschaftlichen und politischen Bereichen fehlt. |
[2] Corinne Gobin |
1-2- Die Euromärsche sind ein Teil des neuentstehendens Widerstands und einer europaweiten schlagkräftigen Antwort auf die neoliberale Offensive.In einigen Ländern sind Vereinigungen und »Initiativen« aufgetaucht, die der Sprachlosigkeit gegenüber dem Ansteigen der Arbeitslosigkeit und ihren Folgen entgegenwirken, teils an traditionelle Strukturen gebunden, teils nicht.Das Beispiel der französischen Vereinigung AC! (Gemeinsam handeln gegen die Arbeitslosigkeit) ist typisch für diesen Prozeß: Konfrontiert mit der Mauer der Arbeitslosigkeit mussten alle, die in dieser Situation nicht resignieren wollten, ihre Kräfte bündeln. Und das ohne eine ausgrenzende Ideologie oder Organisationsform, sondern orientiert auf gemeinsame Aktionen unterschiedlicher Kräfte. AC! wurde 1994 aus Anlass der nationalen Märsche in Frankreich gegründet. Diese ermöglichten es, dass sich AktivistInnen aus Vereinigungen und Gewerkschaften neu zusammenschlossen, dass sich Arbeitslose organisierten, und dass sie fähig wurden, auf sozialer und politische Ebene einzugreifen. Sie hörten endlich auf, sich selbst die Schuld zu geben, zu resignieren und nur zuzuschauen. Man sollte diesen Prozeß in unterschiedlichen Formen in Deutschland, Belgien, Spanien und Italien wiederfinden. Schnell erkannten die treibenden Kräfte dieser Bewegungen, AktivistInnen aus den Initiativen und Gewerkschaften, die Begrenztheit der nationalen Ebene und die Notwendigkeit der europäischen Dimension für ihren Kampf: Man mußte dort eingreifen, wo die Entscheidungen fallen, nämlich auf europäischer Ebene. Ein Treffen in Florenz 1996 ermöglichte es, zu diskutieren und zur Tat zu schreiten, von der Resignation in die Offensive zu kommen, die Bemühungen aller ohne Ausgrenzung auf europäischer Ebene zu koordinieren, um gemeinsam zu handeln gegen die Arbeitslosigkeit, die Prekarität und die Ausgrenzung. So begann das Abenteuer Euromärsche. Die Grundlage für diese Neuorganisation war weniger eine eingeschränkt ideologische, sondern vielmehr der Wille, gemeinsam zu handeln, um die Sackgasse der Massenarbeitslosigkeit zu verlassen. 1997 zogen Märsche aus allen Ländern Europas sternförmig nach Amsterdam. Sie zeichneten sich durch Vielfältigkeit aus: Hunderte von MarschiererInnen, die innerhalb von zwei Monaten durch Europa zogen, ermöglichten es, die Kräfte unterschiedlichster politischer und gewerkschaftlicher Gruppen und Initiativen zu bündeln. Die Märsche und die Abschlusskundgebung am 14. Juni waren ein Erfolg. Sicher, der Gipfel von Amsterdam hat keinen einzigen Beschluß gegen die Arbeitslosigkeit getroffen. Aber zum erstenmal diskutierten die Regierungen nicht nur über Konvergenzkriterien, und beschlossen den Beschäftigungsgipfel für November in Luxemburg. Im selben Jahr gab es den grenzübergreifenden Streik in Vilvoorde, die Euromärsche nach Amsterdam und die Kundgebung des Europäischen Gewerkschaftsbundes im November in Luxemburg. Das Bewußtsein, den sozialen Einbruch nicht als unausweichlich hinzunehmen, verbreitete sich über die Grenzen hinweg. Dies waren die ersten Umrisse einer europäischen sozialen Bewegung. Man kann sogar sagen, dass sich ohne die gemeinsamen Mobilisierungen kein europäisches Selbstverständnis der Bewegung hätte aufbauen können. Eine der notwendigen Grundlagen für nationale Identitäten ist das nicht der Gedanke der gemeinsamen Kämpfe, der Mobilisierungen des Volkes, die die Bedingungen für ein kollektives Gedächtnis und Bewusstsein geschaffen haben Institutionen [3]?
| [3] Christophe Aguiton und Robert Crémieux in « Politique la Revue » (Juli 1997) |
1-3- Die Euromärsche beteiligen sich an einem Prozeß der Neuzusammensetzung der sozialen und politischen Landschaften in Europa.Das Phänomen der langdauernden Massenarbeitslosigkeit hält viel länger an als die Aktionsphase der Initiativen und gewerkschaftlichen Kräfte. Die ökonomischen und politischen Erschütterungen am Ende des Jahrhunderts haben eine tiefe Krise der Gesellschaft und ihrer traditionellen Strukturen hervorgebracht. Die nationalen Rahmen erweisen sich als immer zerbrechlichere Dämme gegenüber den zunehmenden Attacken der Neoliberalen in Europa und der Welt. Auf der politischen Ebene passen sich die Sozialdemokraten seit langer Zeit stark an das System an, auch länderübergreifend. Der Zusammenbruch der Staaten in Osteuropa hat die neoliberale Offensive verstärkt. Die Euromärsche gehören keiner nationalen oder europäischen politischen Organisation an. Sie setzen sich aus Gruppen und AktivistInnen zusammen, die unterschiedliche Meinungen zum Aufbau Europas haben. Ihre »ideologische« Gemeinsamkeit besteht in der kategorischen Ablehnung der neoliberalen Logik, die zur gegenwärtigen Lage geführt hat und neue Kämpfe gegen Arbeitslosigkeit, Prekarität und Ausgrenzung notwendig macht. Diese Basis und die konkreten gemeinsamen Aktionen ermöglichen breite Bündnisse, in denen sich Strömungen und Strukturen mit unterschiedlichem Ursprung versammeln, um gemeinsam grenzübergreifend zu handeln. Diese Situation ist übrigens typisch für die Periode, in der wir uns befinden, und das nicht nur in Europa. Eine Epoche ist am Ende und eine neue steht bevor. Wir erleben eine grundlegende Transformation der Gesellschaft. Auch wenn heute noch der Neoliberalismus triumphiert, glauben doch viele, dass die Zukunft der Menschheit nicht in der alleinigen Herrschaft des Marktes bestehen kann, dass es eine Alternative zu einer Gesellschaft der Arbeitslosigkeit, Prekarität und Ausgrenzung gibt. Die Euromärsche beteiligen sich an der Suche nach einer Alternative mit neuen sozialen Verhältnissen. Trotz seiner Ambivalenz ist das Entwicklungskonzept der »Zivilgesellschaft« dazu geeignet, dieses Phänomen des Übergangs unserer Gesellschaft und die Ablehnung einer Gesellschaftsordnung, die sich überlebt hat, zu beschreiben; es handelt sich um einen Prozeß der sozialen Neuordnung, der begrenzte Vorhaben betrifft, die aber nicht von den bestehenden Strukturen einbezogen werden. [4] |
[4] « Société civile: |
Von Florenz nach Köln:
Angesichts dieser gerade beschriebenen Situation wird man verstehen, daß die Euromärsche nichts mit einem abgeschlossenen Konzept zu tun haben, oder mit einer Organisation, die Antworten auf alles gibt. Sie sind Teil eines Entwicklungsprozesses, ausgehend von einem unerschütterlichen Willen, das Verhängnis der Arbeitslosigkeit, der Prekarität und der Ausgrenzungen abzulehnen. Sie kommen mit einer guten Portion Empirismus voran, wobei sie sich unaufhörlich von den sozialen Bewegungen in den unterschiedlichen Ländern Europas und ihren jeweiligen Erfahrungen nähren und voneinander profitieren.
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III- Wie weiter?
3-1 Die aktuelle Situation in EuropaDie Regierungsübernahme von Sozialdemokraten in den meisten europäischen Ländern machte den Arbeitslosen Hoffnungen, die schnell enttäuscht wurden. Uns ist nicht egal, ob es linke Regierungen sind. Aber wieder einmal müssen wir feststellen, dass die linken Regierungen ohne Mobilisierung eine rechte Politik machen. Bei den Sozialdemokraten triumphiert der sogenannte »Dritte Weg« von Blair und Schröder: dieser besteht im Prinzip darin, allein auf die Wirtschaft zu vertrauen und die Arbeitslosigkeit durch ungeschützte Beschäftigungsverhältnisse zu ersetzen. In Frankreich wendet sich das Gesetz der 35-Stunden-Woche der Jospin-Regierung letztendlich gegen die Arbeiter mit oder ohne Anstellung. Nicht nur, dass es keine neuen Arbeitsplätze außer prekäre gebracht hat, es ermöglicht auch noch den Unternehmern, die Tarifverträge auszuhebeln und die Flexibilisierung auszuweiten. Wir haben mit gutem Grund Misstrauen gegen den »Europäischen Beschäftigungspakt«, der den Gewerkschaften gegenüber der Ausweitung der Prekarität die Hände bindet.
3-2 Eine andere Politik ist nötigNach dem Einheitsdenken, gegen das sich zahlreiche Wirtschaftswissenschaftler langsam europaweit erheben, sollte eine starke Währung die Investitionen fördern und somit den Arbeitsmarkt wiederbeleben. Der Weg zu diesem Ziel führte über eine Sparpolitik auf den Gebieten der Löhne und des Budgets. Die Opfer von gestern und heute sollten die Arbeitsstellen von morgen schaffen. Sparpolitik gab es, und auch eine Zerstörung des sozialen Netzes: Auf die Arbeitsstellen warten wir aber immer noch! Europa darf nicht weiter mittels Entscheidungen über Wirtschaft und Währung gebildet werden ohne die Mitbestimmung der Völker, die dieses Europa bilden. Es ist höchste Zeit, dass Europa anders aufgebaut wird, dass die elementarsten Grundsätze der Demokratie für den ganzen Kontinent geltend gemacht werden. Das Soziale darf nicht weiter die versteckte und schamvolle Seite Europas bleiben, sondern muss zu einer Hauptsache seines Aufbaus werden. Dazu muss die Konkurrenz zwischen den Ländern aufhören. Alles, was Arbeit, Soziales und die Verteilung des Reichtums betrifft, muss die benachteiligen Menschen bevorzugen, so wie es im Aufruf von Wien heißt: »Es ist genug für alle da!« Schluss mit den Verlagerungen der Firmen ins Ausland! Schluss mit dem Lohndumping! Die EU-Kommission, die ansonsten alles, was den Konkurrenzkampf verfälschen könnte, argwöhnisch verfolgt, hat nichts gegen diese Verfahrensweise einzuwenden. Die soziale Seite wird ignoriert! Es wird keine Arbeitszeitverkürzung zur Schaffung von Arbeitsplätzen geben, solange sie nicht für alle EU-Länder angeordnet wird.
3-3 Unsere AufgabenWir müssen weiterhin mobilisieren, sowohl in jedem Land als auch auf europäischer Ebene. Es wäre das schlimmste, wenn wir uns jetzt angesichts der mageren konkreten Resultate enttäuscht zurückziehen und damit das bereits Erreichte aufgeben. Wir müssen die soziale Basis der Bewegungen verbreitern, an denen wir teilnehmen.Auf der gewerkschaftlichen Ebene akzeptieren zahlreiche Strukturen inner- und außerhalb des EGB nicht mehr, den Transmissionsriemen für die Neoliberalen zu spielen und sie beginnen, ihre Anstrengungen zu koordinieren, um diese Tendenz umzudrehen. Die Kämpfe gegen die Flexibilisierung, die Prekarität und die Erschütterungen der Entlassungen im Anschluß an aktuelle Firmenzusammenschlüsse werden uns ermöglichen, das Kräfteverhältnis gegenüber den Neoliberalen zu verschieben. Auf der politischen Ebene sind wir an die völlige Unabhängigkeit der sozialen Bewegung gebunden. Gleichzeitig zählen wir auf die Teilnahme und die Unterstützung aller Organisationen, die die neoliberale Logik ablehnen. In Köln haben linke Gruppen, aber auch die Parteien der GUE (Europäische Vereinigte Linke) und der Grünen und linke Strömungen der Sozialdemokratie mit uns demonstriert. Für die nächste Zeit haben wir vier große Aufgaben:
3-4 Wie unter diesen Bedingungen handlungsfähig bleiben ?Die Euromärsche funktionieren nicht wie eine Organisation mit pyramidaler Struktur. Sie organisieren sich um Projekte gemeinsamer Aktionen herum.Regelmäßige Koordinierungstreffen ermöglichen es, den gemeinsamen Rahmen zu setzen, in dem jeder »Bestandteil« seinem passenden Platz findet. Bisher spielte das Sekretariat in Paris die Rolle des Koordinators. Für die Vorbereitung von Köln haben die Büros in Deutschland, Belgien,Luxemburg und Frankreich eng zusammengearbeitet. Trotz der Probleme mit den Sprachen und der politischen Kultur beginnen die aktiven Teams, sich auf europäischer Ebene zu formieren. Man könnte die jetzige Struktur aufgeben und ein europäisches Leitungsteam an seine Stelle setzen, um die beschlossenen Mobilisierungen und Konferenzen koordiniert vorzubereiten. All das hängt auch von den Geldmitteln ab, über die wir verfügen müssen, damit es funktionieren kann. Wir müssen auch an der Herausgabe eines wirklich europäischen Bulletins arbeiten, an Internet-Seiten und so weiter. Die Erfahrung des Erwerbslosenparlaments von Köln wird uns ermöglichen, unsere Mobilisierungsmöglichkeiten auszuweiten. Anläßlich der EU-Präsidentschaft Ende 2000 könnten wir ein solches Parlament mit der Gesamtheit der Netzwerke gegen Arbeitslosigkeit, national oder transnational wie das Netzwerk ENU (European Network of the Unemployed) organisieren und in der Frage der Prekarität die Verbindung mit der Gewerkschaftsbewegung herstellen.
Die Aufgabe ist immens. Aber wir sind damit nicht alleine. Die Erfahrungen, die wir mit den Märschen machen, finden sich bei anderen Schritten wieder, wie beim Netzwerk ATTAC in Europa und darüber hinaus. Auch die Anwesenheit von VertreterInnen aus mehreren Kontinenten an der Demonstration in Köln zeigt, dass wir den festen Willen haben, uns nicht nur gegenseitig zu informieren, sondern auch gemeinsam gegen die verhängnisvollen Folgen des Neoliberalismus auf weltweiter Ebene zu handeln. Wir wollen die Solidarität wiederherstellen, die von der neoliberalen Offensive zerstörten Verbindungen neu knüpfen: Das, was wir jetzt erleben ist auch der Aufbau eines neuen Internationalismus.
Michel Rousseau, 23. September 1999, Erfurt Übersetzung: Gitti Götz |
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