Am 05. und 06. November 2011 fand wieder eine europäische Koordination der “Märsche” statt.
Hier dokumentieren wir die Berichte aus den vertretenen Ländern:
Länderberichte:
Wir versuchen, sie an Hand des von Joachim entwickelten Rasters in folgende Punkte zu gliedern:
* Lage der Erwerbslose und evtl. Maßnahmen gg sie
* Umsetzung der EU-Politik, Politik der Regierungen, gesellschaftliche Debatten über Arbeitszeit, Mindestlohn etc.
* Stand der sozialen Akteure (Gewerkschaften, Parteien, Kirchen, Bewegungen), evtl. Zusammenarbeit
* was wir in den Ländern als zentrales politisches Thema diskutiert (ist Erwerbslosigkeit ein zentrales Thema?)
Das Raster soll in den einzelnen Ländern diskutiert und gegebenenfalls verfeinert werden.
Belgien:
auch unterschiedliche Situationen in den Regionen
In Sachen Erwerbslosenversicherung gibt es zwei neue Tatbestände zu vermelden:
– 1/3 der vorgesehenen Kürzungen sollen die Arbeitslosenversicherung betreffen: Hier beschleunigt sich die Degression (bislang konnte man theoretisch unbegrenzt Arbeitslosengeld beziehen). Ein Jahr lang gibt es Arbeitslosengeld, danach sinkt die Leistung auf Sozialhilfeniveau. Wenn der Partner über 13.000 Euro im Jahr verdient, dann hat ein Bezieher von ALGII keinen Anspruch auf Leistung.
Für belgische Verhältnisse ist das ein Tabubruch. Zum erstmal akzeptieren die französischen Sozialisten das. Alle drei Gewerkschaften haben darauf gemeinsam mit Protest reagiert. Sie sagen aber auch: Dafür gehen wir nicht auf die Straße,erst wenn es an die Renten der Beamten im öffentlichen Dienst geht.
Es gibt, vor allem in Flandern, eine regelrechte Hetze gegen Erwerbslose. Sie verschiebt das gesellschaftliche Klima nach rechts. Es gibt einen Blog in Flandern “Ich hasse Erwerbslose.com”, er hat Riesenerfolg. Die Gewerkschaften reagieren darauf ganz defensiv.
Man kann sich eine Arbeit auch nicht mehr aussuchen.
– Widerstand: Es gibt Komitees Aktion Europe gegen Sparpolitik. Es gibt keinen Widerstand gegen spezifische Maßnahmen gegen Erwerbslosen; selbst in den Erwerbslosenbewegungen gibt es die Stimmung: Ohne die Gewerkschaften können wir nichts machen. Aber die Gewerkschaften machen nichts.
Die Beschäftigten, die die Maßnahmen umsetzen sollen, revoltieren. An der Basis der Gewerkschaften steigt auch das Bewusstsein darüber, dass Arbeitslosigkeit keine Schuld ist – da aber gibt es große Unterschiede je nach Region, und es sind auch nur die Bewusstesten, die so denken. In der breiten Masse ist die Stimmung gegen die Erwerbslosen, selbst Arbeitslose denken: “Arbeitslose sind faul und Schmarotzer”. Es sind vor allem die gut situierten Mittelschichten, die gegen die Erwerbslosen hetzen, Selbständige, Freiberufler – sie haben Angst, etwas zu verlieren.
Die deutsche Region in Belgien ist traditionell die am meisten ländliche und katholische, konservativ aber nicht rechtsradikal. Die Anti-Erwerbslosenstimmung ist vor allem in Flandern virulent, hier muss man sie brechen. Dafür haben die belgischen Genossen ein Projekt für einen Film “Assez!”, der vor allem für Jugendliche gedacht ist.
Beklagt werden auch die Vereinzelungsmechanismen durch das Internet: jeder Erwerbslose hat ein digitales Dossier, um dessen Richtigkeit und Vollständigkeit er sich selber kümmern muss. So wird er durchleuchtet. Seine Akte wird auch dann weiter verfolgt, wenn er wieder Arbeit hat.
Arbeitslose, die mit dem PC nicht umgehen können, stehen auf dem Schlauch. Auch die Anweisung, eine Arbeit anzutreten, wird per SMS/Mail/Internet gegeben. Viele Arbeitslose wissen von den Arbeitsangeboten im Internet nichts, nur die gebildeten.
Deutschland:
Zwangsarbeit nimmt zu, Zuweisung in Arbeit und Leistungskürzung. Bestimmte Leistungen können nach Ermessen gewährt werden, sind nicht mehr Pflicht. Es gibt eine Tendenz zur Regionalisierung der Arbeitsverwaltung, dabei wird nach Kassenlage entschieden.
Die Zahl der Erwerbslosen nimmt ab, dafür steigt die der prekär Beschäftigten enorm.
Es gibt eine Mindestlohndebatte: SPD und DGB fordern einen gesetzlichen Mindestlohn, 8,50 Euro brutto bundesweit. Selbst die CDU denkt über Lohnuntergrenzen nach, akzeptiert sie aber nur für bestimmte Branchen und nur auf dem Niveau des Stundenlohns für Leiharbeiter (6,79 Euro).
Chancen, aus den Transferleistungen heraus und in den 1.Arbeitsmarkt zu kommen, gibt es nicht mehr.
Suppenküchen und Tafeln haben massiv zugenommen; es gibt eine Armutsdiskussion.
Es gibt Erwerbsloseninitiativen, aber die soziale Bewegung liegt am Boden, keine Mobilisierungsfähigkeit.
Eine EU-Richtlinie hat die Bedingungen für Leiharbeit geändert: Die Löhne richten sich nach dem Land, wo das jeweilige Unternehmen seinen Sitz hat, nicht nach dem Land, wo die Beschäftigten eingesetzt werden.
Die Diskussion über Griechenland spielt eine große Rolle, damit wird abgelenkt von den Missständen Niedriglohn und Armut bei uns.
Bemerkung: Es gab in der deutschen Delegation großen Unmut darüber, dass die Berichterstattung über die Lage in Deutschland vorher nicht abgestimmt und in der Bundeskoordination besprochen wird. Die Unterschiede zwischen West und Ost sind immer noch zu groß, als dass man einen einheitlichen Bericht verfassen könnte. Die Bundeskoordination verständigt sich künftig über Länderberichte.
Frankreich:
Arbeitslosengeld: Der Bezug von Arbeitslosengeld wird durch ein Abkommen zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften geregelt, das eine 2jährige Laufzeit hat. für jeden Arbeitstag gibt es einen Tag Arbeitslosengeld, maximal 24 Monate lang und max. 57% des letzten Lohns.
Nach 2 Jahren bleiben nur RSA und ASS (Formen der Sozialhilfe) mit ca. 450 Euro pro Monat.
Der Prozess der Fusion zwischen ANPE (Vermittlung) und Assedic (Leistungsstelle) ist immer noch im Gang, die Fusion führt zu großen Disfunktionalitäten im Betrieb, die Beschäftigten der einen Abteilung wissen nicht, wie die Arbeit der anderen Abteilung laufen muss.
Die Begleitung und Wiedereingliederung der Arbeitslosen läuft sehr schlecht, sie versuchen, das auf Internet umzustellen, was aber vielfach nicht funktioniert. Das wirkt sich konkret so aus, dass Menschen aus der Leistung ausgeschlossen werden und die Arbeitslosenzahlen dadurch sinken.
4 Millionen Arbeitslose sind zur Normalität geworden. Es ist keine Rede von der Krise der Erwerbsarbeit, es wird vorausgesetzt, dass es genügend Arbeit gibt.
Der Bezug von RSA ist bislang nicht an Arbeitszwang gebunden, das droht aber: angeblich ist es nicht normal, dass ein Arbeitsloser Leistung bekommt ohne Gegenleistung. Es mehren sich die Stimmen, dass Erwerbslose für ein paar Stunden in der Woche Bürgerarbeit leisten sollen.
Selbst für Linksparteien wird Hartz IV zum Vorbild, die Kategorie der zumutbaren Arbeit wird eingeführt.
Es gibt eine Tendenz zum Ehrenamt, zu unentgeltlicher Arbeit, Praktika (Prüfung, Profiling). Es gibt noch keine Löhne unterhalb des gesetzlichen Mindestlohns (SMIC).
Im öffentlichen Dienst werden Arbeitsplätze abgebaut, vor allem in den Kommunen. Jeder 2.Beamte, der in Ruhestand geht, wird nicht mehr ersetzt. Sarkozy hat sein Versprechen “mehr arbeiten, um mehr zu verdienen” nicht eingehalten. Statt dessen gibt es mehr Arbeit in der gleichen Zeit, ohne mehr Geld.
Die Steuerentlastungen für die Reichen steigen. Hingegen werden Steuervorteile auch für Mittelschichten abgeschafft (z.B. Anrechnung der Kinder). Gesundheitsleistungen werden privatisiert. Es geht die Rede: “Die Ärmeren sollen zahlen, das bringt mehr, als die Reichen zu belasten, sie sind viel mehr.”
Frankreich ist im Vorwahlkampf, rechte wie linke Parteien sind an Erwerbslosen wenig interessiert. Gewerkschaften beteiligen sich nicht an Mobilisierungen gegen Erwerbslosigkeit.
Wegen ihrer Stigmatisierung und Individualisierung sind die Erwerbslosen selbst nur schwer mobilisierter. Arbeitslosigkeit ist ein Normalzustand geworden, vor allem für Jugendliche. Gewerkschaften kämpfen höchstens für den Erhalt der noch bestehenden Arbeitsplätze, egal wie sie aussehen. In jüngster Zeit kämpfen Arbeiter jetzt aber wieder eher für den Erhalt des Betriebs als für eine gute Abfindung.
Kampf gegen Erwerbslosigkeit steht nicht auf der Tagesordnung, eher die Sparpolitik, die Ratingagenturen, oder die Armut oder die Primaries für die SP. Im Mittelpunkt der gesellschaftlichen Kritik stehen die Banken. Es ist viel von der Krise die Rede und es gibt eine Tendenz, die nationale Einheit zu beschwören: Warum hilft man den Griechen und nicht den Arbeitslosen?
Niederlande:
Es gibt derzeit eine große Mobilisierung gegen neue Maßnahmen zur Kürzung der Sozialhilfe.
Die Kriterien für den Leistungsbezug werden geändert: Es gibt Einschränkungen für Rentner, für Alleinerziehende, es wird eine Arbeitspflicht eingeführt, Urlaub und Auslandsaufenthalt für Migranten werden gekürzt, außerdem müssen sie niederländisch lernen und eine Kleiderordnung beachten.
Die Zahl der Arbeitslosen ist konstant. Sehr viele Arbeitslose gehen in die Krankenversicherung, dann sind sie aus der Arbeitslosenstatistik draußen.
Bei psychiatrischen Erkrankungen und bei bestimmten Krankheiten muss man jetzt eine Eigenbeteiligung leisten. Gesundheitsleistungen für Auslandsniederländer werden nicht mehr nach niederländischem, sondern nach ausländischem Standard bemessen.
Jederzeit sind Hausbesuche bei Erwerbslosen möglich. Langzeitarbeitslose werden als Invaliden eingestuft. Sie werden bevormundet, als Minderjährige behandelt, offenkundig sollen sie eingeschüchtert werden, damit sie keine Forderungen stellen.
Zugleich steigen die Mieten in Sozialwohnungen, Bafög wird gekürzt, die Rente mit 67 eingeführt, die indirekten Steuern steigen.
Europa ist kein Thema; auch nicht Arbeitszeitverkürzung. Der gesetzliche Mindestlohn bleibt, wird aber durch das Lohndispensationssystem ausgehöhlt.
Das zentrale Thema sind die Sozialkürzungen, alle reden davon, weil alle betroffen sind.
Es gibt eine occupy-Bewegung, eine Plattform gg Armut, Mobilisierung der Erwerbslosen. Etwas bewegt sich, aber es ist noch am Anfang.
Fazit:
Es gibt einen Paradigmenwechsel: Ein Erwerbsloser ist nicht mehr einer, der seine Arbeit verloren hat und dafür Anspruch auf Entschädigung hat, sondern ein sozial Behinderter, Kranker, oder gar Delinquent, Krimineller. “Sozialrassismus”.
Alle wünschen, dass wir mehr Zeit haben, über unentgeltliche und erzwungene Arbeit, über Aktivierungspolitik und über die Pathologisierung der Langzeitarbeitslosen zu reden.
(Bericht von Angela Klein)