Wir fordern:
Eine Charta der Grundrechte der Europäischen Union, in der die sozialen
Rechte garantiert werden.
Nach neunmonatiger Arbeit an der Grundrechtecharta hat der »Konvent«, der
sich aus 63 Mitgliedern der EU-Kommission, des Europaparlaments sowie der
Regierungen und Parlamente der 15 Mitgliedstaaten zusammensetzt, eine
Garantie der sozialen Rechte abgelehnt - unter dem Vorwand, die seien
»Versprechungen, die in der Zukunft nicht gehalten werden können«.
Wir sind dagegen, daß diese Charta - von der es heißt, daß sie zur
Präambel einer europäischen Verfassung werden soll - in Nizza proklamiert
wird, weil sie in ihrer heutigen Gestalt ein Instrument der sozialen
Regression ist.
Wir sind mit den Gewerkschaften einer Meinung, daß die gewerkschaftlichen
Rechte auf europäischer Ebene zuerkannt werden müssen.
Wir fordern, daß folgende sozialen Rechte garantiert werden:
- Das Recht auf Arbeit.
Die AutorInnen der Charta haben im Kapitel, das die Überschrift
»Freiheiten« trägt, auf subtile Art und Weise das Recht auf Arbeit in ein
»Recht zu arbeiten« verwandelt:
»Jeder Mensch hat das Recht zu arbeiten und einen frei gewählten oder
angenommenen Beruf auszuüben.« (Art. 15)
Staat und Unternehmer sind damit ihrer Verantwortung ledig; sie
garantieren nur, daß es jedem und jeder frei steht - zu arbeiten oder zu
verhungern! Die Aufnahme des Rechts zu arbeiten in das Kapitel
»Freiheiten« wurde folgendermaßen begründet: »Der Text hebt das Recht auf
eine Leistung auf.« Im Klartext werden damit die Regelungen über den Bezug
von Arbeitslosengeld in Frage gestellt.
Die Charta muß nach unserer Ansicht das Recht auf Arbeit so garantieren,
wie es von der Allgemeinen Menschenrechtserklärung von 1948 definiert ist.
- Das Recht auf Wohnen.
Dieses fehlt in der Charta zur Gänze, ist aber in der Europäischen
Sozialcharta enthalten. [Die Bundesregierung hat diese übrigens bis heute
nicht ratifiziert, A.K.]
- Das Recht auf ein Mindesteinkommen.
Der Wortlaut der Charta ist an dieser Stelle sehr zweideutig und schlecht.
Er lautet: »Um die soziale Ausgrenzung und die Armut zu bekämpfen,
anerkennt und achtet die Union das Recht auf eine soziale Unterstützung
und eine Unterstützung für die Wohnung, die allen, die nicht über
ausreichende Mittel verfügen, ein menschenwürdiges Dasein sicherstellen
sollen, nach Maßgabe des Gemeinschaftsrechts und der einzelstaatlichen
Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten.« (Art. 34)
Der letzte Teil des Satzes stellt keinerlei Garantie dar, weil das
Gemeinschaftsrecht auf die Liberalisierung der Märkte und die drakonischen
Konvergenzkriterien für die Einheitswährung festgelegt ist, die jeden
Staat zwingen, die »Großzügigkeit«, die angeblich in seinen
Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten enthalten ist, abzubauen.
Der erste Teil des Satzes bringt zum Ausdruck, daß das Prinzip der
Universalität der Rechte aufgegeben wird. Armut und Ausgrenzung werden als
notwendiges Übel und angeblich unveränderliches Naturgesetz hingenommen.
Wir akzeptieren nicht, daß die Erwerbslosen für ihre Situation
verantwortlich gemacht werden. Wir lehnen jede Maßnahme des Arbeitszwangs
ab und wir fordern von der Europäischen Union, von den Regierungen und den
Unternehmern das Recht auf ein garantiertes individuelles Einkommen, ohne
Ansehen des Alters, des Geschlechts und der Herkunft.
Die Organisationen der Erwerbslosen und der prekär Beschäftigten in den
Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben das Einkommensniveau, unter
das niemand sinken darf, beziffert. In Anbetracht der großen
Einkommensunterschiede zwischen den einzelnen EU-Staaten ist es heute
nicht möglich, einen gleichen Betrag für alle Erwerbslosen in der EU
festzulegen. Dennoch ist eine gemeinsame Forderung zugleich nötig und
möglich. Wir schlagen für alle Länder der EU gemeinsame Kriterien zur
Festlegung eines garantierten Mindesteinkommens vor, die ihren
Besonderheiten Rechnung tragen und mehrere Parameter berücksichtigen:
- seinen Ausdruck als nennenswerten Anteil am Bruttoinlandsprodukt (der
Indikator für den erarbeiteten Reichtum) pro Kopf der Bevölkerung - wir
schlagen vor: 50 Prozent;
- die Deckung der wesentlichen Bedürfnisse, damit die Menschen leben
können, nicht nur überleben;
- die Respektierung der sozialen Errungenschaften in jedem Land.
Das Mindesteinkommen muß jährlich der Preissteigerung und dem Wachstum des
Reichtums angepaßt werden.
Wir fordern außerdem:
Eine soziale Agenda, die sich verpflichtet, die notwendigen Maßnahmen
einzuleiten, um ein garantiertes individuelles Mindesteinkommen auf
europäischer Ebene festzulegen.
Die neue europäische soziale Agenda für die Jahre 2000 - 2005 beinhaltet
sozialpolitische Leitlinien für die Mitgliedstaaten. Sie gibt vor, soziale
Ausgrenzung und Armut bekämpfen zu wollen, schließt aber das Prinzip eines
Mindesteinkommens aus.
Dieser Vorschlag der EU-Kommission, der in Nizza von den Staats- und
Regierungschefs angenommen werden soll, läßt eine dramatische Zunahme der
Verarmung befürchten, denn:
- die EU-Grundrechtecharta sieht ein Recht auf ein Mindesteinkommen nicht
vor - nur das Recht auf soziale Unterstützung;
- die Minister haben im Rahmen der Ratssitzungen eine unanständige
Empfehlung angenommen, die dazu auffordert, den Zustand extremer
Prekarität zu definieren, der ein Recht auf Bezug von elementaren
materiellen Leistungen verleiht - als solche werden Leistungen definiert,
die mindestens den Grundbedarf an Nahrung, Kleidung, Übernachtung und
Basis-Gesundheitsversorgung decken. Anvisiert wird das Recht, im Fall
äußerster Not mit Naturalien versorgt zu werden - nicht das Recht auf eine
Geldsumme oder gar auf ein Einkommen!
Der Ausschuß für Beschäftigung und Soziales beim Europaparlament hat
gefordert, daß die EU-Kommission das Programm der sozialen Agenda um »eine
Initiative für das Recht auf ein Mindesteinkommen, eine Mindestrente und
einen Mindestlohn erweitert wird, damit jedem Bürger und jeder Bürgerin
ein anständiges Lebensniveau und die Möglichkeit der Beteiligung an der
Gesellschaft gesichert werden«.
Wir fordern von der EU-Kommission und vom Europäischen Rat, daß sie den
Änderungsantrag des Europaparlaments annehmen. Aus einem sozialen
Aktionsprogramm für die EU, das zur Leitlinie für die Gesetzgebungen der
Mitgliedstaaten werden wird, kann das Recht auf ein garantiertes
inidividuelles Mindesteinkommen nicht ausgeschlossen sein.
Schließlich fordern wir:
Ein Vertrag der Europäischen Union, der mit Blick auf die Osterweiterung
geschlossen wird, muß sich das Ziel setzen, die Arbeits- und
Lebensbedingungen im Sinne ihrer Angleichung nach oben zu verbessern.
Die Osterweiterung wird vorbereitet ohne Einbeziehung der sozialen Rechte.
Damit werden einmal mehr ausschließlich die Interessen der Kaufleute
bedient, die in den Ländern Zentral- und Osteuropas nur einen enormen
Markt sehen, der angeblich nur darauf wartet, erobert zu werden, und ein
Reservoir an hochqualifizierter Arbeitskraft, die zu niedrigem Preis
arbeitet.
Wir werden darauf achten, daß der Vertrag der ultraliberalen EU-Kommission
nicht alle Macht an die Hand gibt, Leitlinien zu diktieren, die als
Instrumente der sozialen Regression wirken.
Wir warnen die Staats- und Regierungschefs davor, im EU-Vertrag den Weg
für Änderungen an den sozialen Regelungen (Art. 137) zu ebnen, die es
möglich machen, Leitlinien über die »Bedingungen für den Bezug von
Arbeitslosengeld« anzunehmen - wie die Entwürfe zum Vertrag es nahelegen.
Der Text, den die französische Präsidentschaft vorbereitet hat, sieht vor,
»die Bedingungen für den Bezug von Leistungen, die Begrenzung des
Leistungsbezugs und die Definition der Verfügbarkeit der Erwerbslosen für
den Arbeitsmarkt« auf europäischer Ebene festzulegen.
Wenn eine solche Leitlinie angenommen wird (hier wird es kein Vetorecht
geben), werden die einzelstaatlichen Rechtsprechungen den Bedingungen
angepaßt werden müssen, die in die Leitlinie hineingeschrieben wurden.
Halten wir die Spirale der Armut auf! Setzen wir Standards durch, unter
die niemand sinken darf: ein garantiertes individuelles Mindesteinkommen
für Leistungsbeziehende, abhängig Beschäftigte und RenterInnen sowie die
Anerkennung des Prinzips »ein Arbeitsplatz ist ein Recht, ein Einkommen
eine Pflicht«. Setzen wir uns für die dazu notwendige Umverteilung des
Reichtums ein!
In Nizza werden wir uns, zusammen mit anderen sozialen Bewegungen und den
Gewerkschaften, dafür einsetzen, daß die sozialen Rechte rechtswirksam
aufgenommen werden. Die Europäischen Märsche gegen Erwerbslosigkeit,
ungeschützte Beschäftigung und Ausgrenzung appellieren an die
Gewerkschaften, an alle engagierten Bewegungen und alle, die auf der Seite
der Opfer der neoliberalen Politik stehen, sich in dieser entscheidenden
Situation der Revision der europäischen Spielregeln zusammenzuschließen,
die obigen Forderungen zu verbreiten und zu unterstützen.
Alle gemeinsam - bauen wir Dämme gegen die neoliberale Offensive!
Erklärung der europäischen Koordination der Märsche, 1. Oktober 2000
Übersetzung: Angela Klein
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