80 000 für ein soziales und demokratisches Europa

Für ein Europa der sozialen und demokratischen Rechte demonstrierten in der vergangenen Woche mehr als 80.000 Menschen anlässlich der Gipfelkonferenz der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union in Nizza. Für zwei Tage war der mondäne Badeort an der französischen Mittelmeerküste ein Ort des Widerstands gegen die kapitalistische Globalisierungsstrategie der Multis und ihrer Regierungen. Mehr als 6.000 Polizisten hatten die Stadt in den Belagerungszustand versetzt.

An der Demonstration des Europäischen Gewerkschaftsbundes nahmen überwiegend Gewerkschafter aus Italien, Spanien und Frankreich teil. Unübersehbar war die Mehrheit der roten Fahnen der französischen Linksgewerkschaft CGT, die im Gegensatz zum EGB die in Nizza verabschiedete Europäische Grundrechtscharta kompromisslos ablehnt.

Der DGB stellte ein Kontingent von 700 Gewerkschaftern in dem Zug, an dessen Spitze IG Metall-Chef Klaus Zwickel in einer Reihe mit den europäischen Gewerkschaftsführern marschierte. Aus Deutschland waren darüber hinaus mehrere hundert Aktivisten der Euromarsch-Bewegung nach Nizza gereist, wo sie sich in der Demonstration mit Erwerbslosengruppen aus anderen Ländern zu einem eindrucksvollen eigenen Block zusammenschlossen, der auf seinen Transparenten und Flugblättern neben dem Recht auf Arbeit einen ganzen Katalog sozialer Grundrechte einforderte und die Grundrechtscharta als völlig unzureichend grundsätzlich ablehnte.

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Die Entwicklung der Euromärsche

Die friedliche Menschenkette um das Kongressgebäude »Acropolis«, mit der Euromarsch und die französische Sozialbewegung ATTAC am Tage der Gipfeleröffnung die vorfahrenden Staats- und Regierungschefs auf ihre Forderungen aufmerksam machen wollten, wurde von Spezialeinheiten der französischen Polizei mit großer Brutalität und unter Einsatz von Tränengas auseinandergetrieben. Die Tränengaswolken drangen bis in die Halle des Kongressgebäudes, wo Frankreichs Staatspräsident Chirac und Premierminister Jospin ihre Gäste mit tränenden Augen empfangen mussten. Teilweise vermummte Demonstranten hatten sich unter die Kundgebung der Globalisierungsgegner gemischt, Schaufenster zerschlagen und Autos umgestürzt. Sie riefen Slogans mit Forderungen nach Unabhängigkeit für das Baskenland und Korsika.

Mit einer Blockade des Hauptbahnhofs und wichtiger Straßenkreuzungen in Nizza protestierten andere Demonstranten gegen eine Polizeiaktion an der italienisch-französischen Grenze, wo ein ganzer Sonderzug mit italienischen Demonstrationsteilnehmern gewaltsam an der Reise nach Nizza gehindert wurde. Der öffentliche Nahverkehr in der Mittelmeermetropole kam für mehrere Stunden völlig zum Erliegen.

Mit einer Vielzahl von öffentlichen Foren und Diskussionsrunden gestalteten - organisiert von einem lokalen Vorbereitungskomitee - zahlreiche Gruppen und Initiativen neben dem offiziellen EU-Gipfel einen dreitägigen »Gegengipfel«. Hier wandte sich die französische Vizepräsidentin von ATTAC, Susan George, besonders nachdrücklich gegen die Änderung des Artikels 133 des Amsterdamer Vertrages, der den transnationalen Konzernen weitgehende Rechte im wirtschaftlichen Bereich einräumen würde. Christophe Aguiton, Sprecher des Netzwerks der Europäischen Märsche gegen Erwerbslosigkeit, ungeschützte Beschäftigung und soziale Ausgrenzung, trug den Katalog sozialer Forderungen dieser Bewegung vor und betonte, dass die soziale Bewegung gegen die kapitalistische Globalisierung an Breite und Kraft bedeutend zugenommen habe. Pierre Tartakowski, Generalsekretär von ATTAC, setzte sich für eine Eindämmung der Macht der transnationalen Konzerne und der Großbanken ein und forderte die Besteuerung aller internationalen Finanztransaktionen als einen ersten Schritt.

Am Vorabend von Gipfel und Gegengipfel in Nizza hatte sich in Paris die »Europäische Versammlung der Erwerbslosen und der ungeschützt Beschäftigten« in einer Resolution gegen die Grundrechtscharta der EU ausgesprochen, da sie die sozialen Rechte nicht garantiere: »Vor allem das Recht auf Arbeitslosengeld, Mindesteinkommen, auf Rente und Wohnung sowie auf die Gleichstellung der Frauen«. Ohne diese Rechte werde die Charta zum Instrument sozialer Unterdrückung.

In einer ersten Bewertung der Protestaktionen von Nizza erklärt die französische ATTAC, dass der Gipfel des Defizit an sozialen, demokratischen und ökologischen Rechten in dieser europäischen Konstruktion erneut bewiesen habe. Doch hätten die Aktionen der Gewerkschaften, der Initiativen für eine soziale und zivile Gesellschaft und der zigtausend Demonstranten bewiesen, dass der neoliberalistische Kurs der EU aufzuhalten ist. »In Nizza haben sich die Konturen eines anderen Europa abgezeichnet, eines sozialen, demokratischen und solidarischen Europa.« Dieser Kampf werde weitergehen.

Hugo Braun

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