{"id":66,"date":"2011-08-15T19:06:46","date_gmt":"2011-08-15T17:06:46","guid":{"rendered":"https:\/\/euromarches.org\/2011\/08\/15\/formen-erzwungener-arbeit-in-europa\/"},"modified":"2020-12-01T15:55:03","modified_gmt":"2020-12-01T14:55:03","slug":"formen-erzwungener-arbeit-in-europa","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/euromarches.org\/de\/formen-erzwungener-arbeit-in-europa\/","title":{"rendered":"Formen erzwungener Arbeit in Europa"},"content":{"rendered":"

Ein neues Sozialhilfegesetz in den Niederlanden stellt dort das bisherige Sozialsystem auf den Kopf<\/p>\n

Ein Beitrag von Bijstandsbond zum Workshop der Eurom\u00e4rsche auf der ENA, 9.\u201314.August, Freiburg\/Br.<\/strong><\/p>\n

\u201cFormen erzwungener Arbeit in Europa\u201d (S11 b)<\/p>\n

Wir haben gelesen, dass es in Deutschland neue Ans\u00e4tze gibt f\u00fcr subventionierte Arbeit, wobei Arbeitspl\u00e4tze f\u00fcr Arbeitslose geschaffen werden, bei denen die Arbeit zus\u00e4tzlich sein muss; sie werden finanziert aus EU-Geldern.<\/p>\n

In den Niederlanden haben wir bis vor kurzem auch ein solches System gehabt. Es gab sogenannte \u201cEinstrom-Ausstrom-Jobs\u201d, wobei die Arbeit auch zus\u00e4tzlich sein musste. Vielleicht f\u00fcnfzigtausend Arbeitslose sind auf diese Weise in Arbeit gekommen. Oft war es Arbeit, die vorher von \u2018regul\u00e4ren\u2019 Arbeitnehmer gemacht wurde, f\u00fcr einen normalen Lohn.<\/p>\n

Vor einigen Jahren, unter der Regierung Balkenende, hat man diese Arbeitspl\u00e4tze jedoch gr\u00f6\u00dftenteils wieder abgeschafft. Neben den Kosten f\u00fcr diese Arbeitspl\u00e4tze wurden gro\u00dfe Summen f\u00fcr die Wiedereingliederung von Arbeitslosen ausgegeben, zum Beispiel f\u00fcr Schulung, Begleitung, Ermittlung, Work First Projekte, usw. Die Arbeitsvermittlung war bei uns privatisiert, dass heisst kommerzielle Wiedereingliederungsbetriebe bekamen Geld vom Staat, um Arbeitslose zu begleiten. Nach dem Ende der Regierung Balkenende (eine Koalition von Liberalen und Christ-Demokraten) haben die Gemeinden die \u201cEinstrom-Ausstrom\u201d-Jobs teilweise \u00fcbernommen.<\/p>\n

<\/p>\n

Jetzt haben wir die Regierung Rutte (auch eine Koalition aus Liberalen und Christ-Demokraten), die sich auf die PVV von Geert Wilders st\u00fctzt. Diese Regierung ist voriges Jahr angetreten. Sie will eine Ausgabenk\u00fcrzung von 18 Mrd. Euro innerhalb von drei Jahren durchsetzen. Davon sollen 2 Mrd. aus der Sozialhilfe, aus dem Gesetz \u00fcber junge Behinderte und aus dem Gesetz \u00fcber soziale Arbeitsbeschaffung aufgebracht werden. (Die Gesamtausgaben des Staates beliefen sich in 2010 auf 254 Mrd. Euro.)<\/p>\n

Dabei gibt es die folgende Entwicklung. Es gibt grosse Ausgabenk\u00fcrzungen bei der Wiedereingliederung von Arbeitslosen, nicht nur beim Staat, sondern auch bei den St\u00e4dten und Gemeinden. Alle subventionierte Arbeit wird wieder abgeschafft. Wiedereingliederungsma\u00dfnahmen gibt es nur noch f\u00fcr Arbeitslose mit gro\u00dfen Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Auch die ganze Maschinerie f\u00fcr die soziale Aktivierung durch unbezahlte Arbeit von Sozialhilfeempf\u00e4ngern, die keine Chancen haben auf dem Arbeitsmarkt, wird abgeschafft.<\/p>\n

Statt dessen hat man ein neues System entworfen. In einem ersten Schritt macht man ein neues Sozialhilfegesetz. Dabei werden das heutige Sozialhilfegesetz, das Gesetz \u00fcber junge Behinderte (eine Volksversicherung) und das Gesetz \u00fcber die Arbeitsbedingungen von geistig Behinderten zusammengefasst. Es gibt dann nur noch eine Sozialhilferegelung f\u00fcr Behinderte und Langzeitarbeitslose.<\/p>\n

Daneben haben wir zwar noch eine Behindertenversicherung f\u00fcr Arbeitnehmer. Aber in deren Genuss kommt man nur mit einer Schwerbehinderung oder einer chronischen Krankheit.<\/p>\n

Und es gibt eine Arbeitslosenversicherung f\u00fcr Arbeitnehmer, die aber nur einen kurzen Zeitraum abdeckt. Wer aber nicht versichert war, als er arbeitsunf\u00e4hig wurde, kommt in die neue Sozialhilfe. (Das gilt auch f\u00fcr die wachsende Gruppe von flexiblen Arbeitskr\u00e4ften, die selbst\u00e4ndig sind.)<\/p>\n

Mit der neuen Regelung, die ab dem 1. Januar 2013 gilt, wird sodann Folgendes eingef\u00fchrt:<\/p>\n

Bis jetzt konnten Arbeitgeber Subventionen bekommen, wenn sie teilweise Behinderte oder Langzeitarbeitslose einstellten. Daneben gab es die subventionierten zus\u00e4tzlichen Arbeitspl\u00e4tze, organisiert von Beh\u00f6rden und Gemeinde. Diese Arbeit durfte keine regul\u00e4re Arbeit verdr\u00e4ngen. Und dann gab es noch Wiedereingliederungsgeld f\u00fcr kommerzielle Arbeitsvermittlungsbetriebe.<\/p>\n

Das alles wird abgeschafft, auch die soziale Aktivierung von Langzeitarbeitslosen.<\/p>\n

Ein neues System wird eingef\u00fchrt, bei dem die Arbeit, die Arbeitslose verrichten, nicht mehr zus\u00e4tzlich sein muss. Sie m\u00fcssen bei einem kommerziellen Betrieb arbeiten und dieselbe Arbeit verrichten wie normale, nicht behinderte, Arbeitnehmer.<\/p>\n

Das neue System hei\u00dft \u2018Lohn-Dispensations-System\u2019. Was heisst das?<\/p>\n

Wir haben einen gesetzlichen Mindestlohn. Das ganze System der sozialen Sicherheit bei uns basiert auf diesem Mindestlohn. Arbeitgeber d\u00fcrfen niemanden unterhalb des gesetzlichen Mindestlohns bezahlen.<\/p>\n

Aber jetzt bekommen die Arbeitgeber Dispens. Es wird ihnen freigestellt, ob sie den gesetzlichen Mindestlohn oder den Tariflohn bezahlen, wenn sie Behinderte einstellen. Sie d\u00fcrfen Behinderten also weniger als den gesetzlichen Mindestlohn oder den Tariflohn bezahlen.<\/p>\n

Aber wieviel weniger? Daf\u00fcr entwirft das neue Gesetz ein kompliziertes Mess- und Beurteilungssystem.<\/p>\n

Zuerst wird festgestellt, ob man zur Zielgruppe geh\u00f6rt. Dabei wird kein Unterschied mehr gemacht zwischen Langzeitarbeitslosen und teilweise Behinderten. Langzeitarbeitslose gelten jetzt auch als \u201cteilweise behindert\u201d, weil sie bestimmte Arbeitsf\u00e4higkeiten verloren haben. Dazu wird man von einem Arzt beurteilt. Er untersucht, ob man eine geistige oder k\u00f6rperliche Behinderungen hat.<\/p>\n

Ist dies der Fall, tritt Phase 2 in Kraft. Man wird angestellt bei einem Arbeitgeber. Dort arbeitet man drei Monate, wobei der Arbeitgeber keinen Lohn zu zahlen braucht. Man bekommt in diesen drei Monaten Sozialhilfe.<\/p>\n

W\u00e4hrend der drei Monate wird der \u201cLohnwert\u201d der teilweise Behinderten festgestellt. Zusammen mit dem Arbeitgeber nimmt ein Beamter der Gemeinde (ein Spezialist auf dem Gebiet der Arbeit) Messungen vor. Dass funktioniert so. Zuerst macht er ein Leistungsbeschreibung von der Arbeit des teilweise Behinderten, er definiert eine bestimmte Leistung, die dieser erbringen muss. Dann berechnet er, wie gro\u00df die durchschnittliche Arbeitsproduktivit\u00e4t der anderen Arbeitskr\u00e4fte ist, die dieselbe Aufgabe erf\u00fcllen. Das macht er auf Grund von 20 oder 30 Variablen. Dann misst er die Arbeitsproduktivit\u00e4t des teilweise Behinderten. F\u00fcr jede Variable kann er einen Wert eintragen.<\/p>\n

Die Variablen enthalten nicht nur Kriterien, die sich auf die Arbeit selbst beziehen \u2013 also wie gut der Arbeitnehmer seine Aufgabe erledigt \u2013, sondern auch darauf, wie er sich am Arbeitsplatz benimmt. Zum Beispiel wird erfasst, ob der Betreffende leicht soziale Kontakte macht, wie sieht der Kontakt zu den Kollegen aus, wie schnell kann er einen Auftrag ausf\u00fchren, hat er Kritik, meldet er seinem Chef Schwierigkeiten, usw.<\/p>\n

Jede Variable bekommt einen Wert zugeteilt. Diese Werte werden verglichen mit den durchschnittlichen Werten bei der Erf\u00fcllung dieser Aufgabe. Dabei kommt ein Prozentsatz heraus. Das ist der Prozentsatz an Leistung, den der teilweise Behinderte f\u00fcr seinen Arbeitgeber erbringt.<\/p>\n

Nun tritt Phase drei in Kraft. Man hat dem teilweise Behinderten bei einem Arbeitgeber einen \u2018Arbeitswert\u2019 von zum Beispiel 40% zugeteilt \u2013 nun braucht dieser Arbeitgeber nur noch 40% des gesetzliches Mindestlohns bei einer vollen Arbeitswoche \u2013 also f\u00fcr 36 Stunden Arbeit \u2013 zu bezahlen.) Nun liegt der Arbeitnehmer zu stark unter dem sozialen Minimum.<\/p>\n

Hier kommt das neue Sozialhilfegesetz ins Spiel. Der teilweise behinderte Arbeitnehmer bekommt eine Aufstockung aus dem neuen Sozialhilfegesetz, so dass er etwas mehr als das soziale Minimum erh\u00e4lt. Daf\u00fcr werden wiederum komplizierte Berechnungen vorgenommen.<\/p>\n

Einem Alleinstehenden stehen aus der Sozialhilfe im Prinzip 70% des gesetzliches Mindestlohns zu, ein Ehepaar bekommt 100% des gesetzliches Mindestlohn. 70% des gesetzlichen Mindestlohns sind ungef\u00e4hr 850 Euro netto. Davon m\u00fcssen Miete, Gas und Elektrizit\u00e4t bezahlt werden. Die Mieten f\u00fcr Sozialwohnungen betragen in Amsterdam zwischen 300 und 550 Euro im Monat. Au\u00dferdem m\u00fcssen von den 850 Euro monatlich mindestens 120 Euro als Beitrag f\u00fcr die Krankenkasse bezahlt werden. Die kann man teilweise von der Steuer absetzen.<\/p>\n

Im neuen System bekommt der teilweise Behinderte, der arbeitet, also etwas mehr als 70% des gesetzlichen Mindestlohns (was das soziale Minimum ist), sagen wir etwa 80%. Im Vergleich zur Sozialhilfe lohnt es sich also, zur Arbeit zu gehen. Aber man verdient nie den vollst\u00e4ndigen gesetzlichen Mindestlohn.<\/p>\n

Nicht alle teilweise Behinderten k\u00f6nnen 36 Stunden arbeiten. Aber auch sie k\u00f6nnen auch in dieses System aufgenommen werden.<\/p>\n

Das ist ein Jagdsystem. Denn jedes Jahr wird die Arbeitsproduktivit\u00e4t des teilweise Behinderten aufs Neue festgestellt.<\/p>\n

Wenn der teilweise Behinderte seine Arbeitsproduktivit\u00e4t nun zu steigern weiss, weil er h\u00e4rter arbeitet oder die Behinderungen eine geringere Rolle spielen, kann er nach einem Jahr eine gr\u00f6\u00dfere Arbeitsproduktivit\u00e4t vorweisen. Dann geht die Berechnung so:<\/p>\n

Wenn jemand, der zuerst eine Arbeitsproduktivit\u00e4t von 40% des gesetzlichen Mindestlohns hatte, jetzt 50% erreicht, dann muss der Arbeitgeber ihm 50% bezahlen. Und der teilweise Behinderte bekommt etwas mehr Sozialhilfe. bekam er zuerst insgesamt 80% vom gesetzlichen Mindestlohn, bekommt er nach einem Jahr vielleicht 85% oder 90%. Aber er erreicht nie die H\u00f6he des gesetzlichen Mindestlohns.<\/p>\n

Ich f\u00fcrchte, dass viele Arbeitslose dieses System akzeptieren. Es bietet etwas mehr als die Sozialhilfe, und man kann sich verbessern.<\/p>\n

Jetzt zum Abbau der subventionierten Jobs f\u00fcr Arbeitslose. F\u00fcr die Arbeitslosen bedeuteten diese Jobs gegen\u00fcber der Sozialhilfe eine grosse Verbesserung. Es waren normale Jobs mit einem normalen Arbeitsvertrag f\u00fcr etwas mehr als den gesetzlichen Mindestlohn. Als die Regierung ank\u00fcndigte, die subventionierten Jobs abbauen zu wollen, sind die Arbeitslosen, die solche Jobs hatten, auf die Strasse gegangen, um sie zu behalten. In Groningen gab es zum Beispiel eine Demonstration von 1500 Leuten.<\/p>\n

Aber die Aktionen blieben lokal und isoliert, weil die Gewerkschaften sie nicht unterst\u00fctzten. Die Gewerkschaften sagen: Subventionierte Jobs sind nicht gut, die Leute sollen in ein regul\u00e4res Besch\u00e4ftigungsverh\u00e4ltnis kommen, deshalb sind wir f\u00fcr den Abbau subventionierter Jobs. Aber die Arbeitslosen, die auf die Stra\u00dfe gehen f\u00fcr den Erhalt der subventionierten Jobs, wollen nicht zur\u00fcck in die Sozialhilfe. Denn da die Ausgabenk\u00fcrzungen weiter gehen, bekommen sie keine andere Arbeit in der Kommune. Das gelingt nur einem Teil. Der Rest f\u00e4llt zur\u00fcck in die Sozialhilfe oder \u2026 er geht in das neue System \u00fcber. Und ich glaube, viele werden das neue System w\u00e4hlen.<\/p>\n

Die Gewerkschaften sind auch gegen das System des Lohndispenses, aber ob sie es wirklich verhindern k\u00f6nnen, wei\u00df ich nicht. Ich denke eher nicht, sogar die Gr\u00fcnen haben im Parlament schon gesagt, dass sie das System des Lohndispenses unterst\u00fctzen. Die wenigen Aktionen, die die Gewerkschaften gegen das neue System durchf\u00fchren, richten sich nicht gegen die Behandlung der Arbeitslosen und Sozialhilfebeziehenden. Vielmehr versuchen sie, mehr Geld herauszuschlagen, au\u00dferdem wollen sie das Gesetz f\u00fcr junge Behinderte und die Arbeitsbestimmungen f\u00fcr geistig Behinderte beibehalten. Das machen sie, weil Sozialhilfebeziehende nicht in Gewerkschaften organisiert sind, teilweise Behinderte hingegen eher. Sie behaupten auch, f\u00fcr die Rechte von Arbeitslosen lie\u00dfe sich weniger gesellschaftliche Unterst\u00fctzung mobilisieren als f\u00fcr Behinderte. Das sagen sie aber nicht \u00f6ffentlich.<\/p>\n

In diesem Jahr werden Modellversuche mit dem neuen System an kleinen Gruppen in 32 Gemeinden durchgef\u00fchrt, um auszuprobieren, wie sie wirken. Aber es gibt wichtige Leute, die sagen, das neue System muss so schnell wie m\u00f6glich, noch im n\u00e4chsten Jahr, vollst\u00e4ndig eingef\u00fchrt werden. Wie es jetzt aussieht, wird das neue Sozialhilfegesetz am 1.Januar 2013 eingef\u00fchrt.<\/p>\n

\u00dcberfl\u00fcssig zu sagen, dass das neue System mit idealistischen Argumente unterf\u00fcttert wird. \u201cWir lassen die Leute nicht im Stich, Arbeit ist das beste f\u00fcr jeden, man kann sich entfalten, die Chancen von teilweise Behinderten und Langzeitarbeitslosen, einen Job zu finden, werden gr\u00f6\u00dfer.\u201d Usw.<\/p>\n

Ein Letztes: Das System ist auch mit einem Subventionssystem kombinierbar. Dann wird der Arbeitswert eines teilweise Behinderten festgestellt, und damit der Betrag, den der Arbeitgeber selber zahlen muss. Er wird aufgef\u00fcllt durch eine Subvention, die an den Arbeitgeber, und nicht an die Sozialhilfe gezahlt wird.<\/p>\n

Piet van der Lende, Bijstandsbond<\/a><\/p>\n

\u00a0<\/p>\n

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