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Schon 15 Jahre!

Eine kleine Geschichte der Europäischen Märsche gegen Erwerbslosigkeit, ungeschützte Beschäftigung und Ausgrenzung

Das Netzwerk der Europäischen Märsche (Euromärsche) existiert seit gut 15 Jahren. Sein Hauptziel ist und bleibt der Kampf gegen die steigende Massen- und Langzeitarbeitslosigkeit in Europa sowie gegen die Prekarisierung und Ausgrenzung, die eine Folge davon sind. Nun müssen wir feststellen, dass die Zahl der Erwerbslosen, Prekarisierten und Ausgegrenzten auf dem europäischen Kontinent noch nie so hoch war wie heute. Haben wir mit diesem Kampf unsere Zeit verloren? Und vor allem: Was können wir heute noch gegen dieser soziale Geißel tun?
Warum haben wir 1997 ein europäisches Netzwerk gegen Erwerbslosigkeit, Prekarität und Ausgrenzung gegründet?

Nach der Vollbeschäftigung der “goldenen Nachkriegszeit” ist die Arbeitslosigkeit in fast allen europäischen Ländern unerbittlich gestiegen: Massenarbeitslosigkeit und Langzeitarbeitslosigkeit. Gewerkschaften und Parteien haben darauf keine Antwort gegen können oder wollen. Deshalb entwickelten sich in den 80er Jahren Arbeitsloseninitiativen, sei es unabhängige, sei es angelehnt an Gewerkschaften, Parteien oder Kirchen. Einige waren bereits Mitglied des Europäischen Netzwerks Erwerbslosigkeit (ENU). Diese Organisationen stellten bald fest, dass ihr Kampf, beschränkt auf einen nationalen Rahmen, bald gegen eine Wand stieß, weil der Anstieg der Erwerbslosigkeit viel zu tun hatte mit den Wirtschafts- und Beschäftigungspolitiken der Europäischen Union, und dass deshalb das Problem auf europäischer Ebene anzupacken und hier zu handeln war.

Deshalb wurde im Juni 1996 in Florenz die Idee eines Aufrufs geboren, Märsche aus ganze Europa im Juni 1997 in Amsterdam zusammentreffen zu lassen, weil dort der turnusmäßige EU-Gipfel stattfand. In einer gewissen Vorwegnahme der späteren Sozialforen, richtete sich der Aufruf an alle Organisationen der sozialen Bewegungen.
Das Ergebnis war ermutigend: Nach zwei Monaten Märsche von den Startpunkten Tanger, Sarajevo, Helsinki, Frankfurt-Oder und Dover trafen mehrere hundert Marschierer in Amsterdam ein, eingerahmt von einer Großdemonstration von fast 50.000 Menschen. Der EU-Gipfel beschloss gleichzeitig, jedes Jahr ein Gipfeltreffen dem Thema Beschäftigungspolitik zu widmen. Das erste fand im Oktober 1997 in Luxemburg statt. Beschäftigung gehörte nunmehr zu den ausdrücklichen Zielen der EU, und eine Koordinierung der Beschäftigungspolitiken wurde in Angriff genommen. Anlässlich der Gegendemonstration, die in Luxemburg stattfand, beschlossen die Erwerbslosenorganisationen, die in Amsterdam dabei gewesen waren, das Netzwerk der Euromärsche zu verstetigen; seine erste Tätigkeit war die Organisierung einer Frühjahrsuniversität auf Chalkidike in Griechenland (in der Nähe von Thessaloniki).

Das Netzwerk lebte im Rhythmus der EU-Gipfel: Cardiff, Wien, Köln, Lissabon, Nizza, Brüssel, Göteborg, Sevilla usw. Von der belgischen Gruppe der Märsche lernten wir, die Texte der EU-Institutionen zu lesen. Wir waren auch die ersten, die gegen die Grundrechtecharta mobil machten, die in Nizza verkündet wurde. Mobilisierungen und die Fähigkeit zur Expertise bildeten die zwei Pfeiler des Netzwerks, vor allem nach dem Gipfel von Lissabon, wo der Prozess einsetzte, der zur Verallgemeinerung der Prekarisierung der Beschäftigung in der gesamten EU führte, und mit jeder EU-Erweiterung intensiviert wurde – mit den bekannten Ergebnissen.

Damals waren das außerordentliche Momente der Verbündung sozialer Bewegungen über die Grenzen hinweg. Alle erinnern sich an die Mobilisierung der Erwerbslosen in Frankreich Ende 1997, Anfang 1998. Die Organisationen in Deutschland waren mit derselben Massen- und Langzeitarbeitslosigkeit konfrontiert; unter dem Eindruck der Mobilisierungen in Frankreich und initiiert von der Koordinierungsstelle Bielefeld nutzten sie den “Jagoda”tag (den Tag der monatlichen Bekanntgabe der Arbeitslosenzahlen) als Termin für regelmäßige Aktionen. Am 8.Mai 1998 organisierten wir gemeinsam eine Demonstration auf der Europabrücke in Kehl.

Ein anderes Merkmal des Netzwerks war die Suche nach gemeinsamen Forderungen auf europäischer Ebene. Die Bewegungen waren ja im nationalen Rahmen entstanden. Um welche gemeinsamen europäischen Forderungen konnten sie sich scharen? Wir haben an der Frage einer europäischen Mindestsicherung gearbeitet, ausgehend von den Erfahrungen der FERPA (der Rentnerorganisation des Europäischen Gewerkschaftsbunds, EGB, die damals von Georges Debunne geleitet wurde). Das gipfelte in der Brüsseler Konferenz im März 2004 über die sozialen Rechte im erweiterten Europa und in der Veröffentlichung einer Broschüre in mehreren Sprachen über unseren Vorschlag, eine europäische Mindestsicherung als Prozentsatz des Bruttoinlandsprodukts eines jeden EU-Mitgliedstaats auszudrücken.
Doch mussten wir die Erfahrung machen, dass wir nicht in der Lage gewesen sind, die EU-Richtlinien zu Fall zu bringen, im Gegenteil, der “Lissabon-Prozess” hat die Prekarisierung auf die gesamte EU ausgeweitet.

Die Euromärsche als Teil des Europäischen Sozialforums

Im Schlepptau von Porto Alegre eröffnete Florenz in 2002 das erste Europäische Sozialforum. Für die Euromärsche war es natürlich, dass sie daran teilnehmen würden, da das Ziel des ESF ja war, die verschiedensten Bewegung auf ein- und demselben Platz zusammen zu bringen, um Analysen und Aktionsvorschläge zusammen zu bringen. In der letzten Zeit wurde das sogar ein Schwerpunkt von uns. Schließlich hatten wir erfahren, dass wir allein zu schwach waren, um die EU-Politik praktisch zu beeinflussen. Deshalb schien es uns notwendig, den Aktionsradius auszuweiten und uns in den Prozess der Sozialforen einzuklinken. Das verengerte in gewisser Weise unsere eigene Sichtbarkeit, gleichzeitig erlaubte es uns aber, Synergien für unsere Kämpfe zu schaffen.
Wir haben unsere Identität nie besonders kultiviert: ein Netzwerk, eine Organisation müssen die Mobilisierungen voran bringen, nicht umgekehrt… Wir haben die Alternative schon immer in einer globalen Perspektive gedacht. Deshalb haben wir an jedem Europäischen Sozialforum teilgenommen (Paris 2003, London 2004, Athen 2006, Malmö 2008, Istanbul 2010) <\#208> häufig zusammen mit dem Netzwerk der Ohne Stimme “No Vox”.
Wiederum in Florenz, im Herbst 2005, haben wir teilgenommen am ersten Versuch, eine “Charta der Grundsätze für ein anderes Europa” zu Papier zu bringen. Nach einer zweijährigen Diskussion wurde sie auf dem Gegengipfel zum G8 in Heiligendamm verabschiedet. Doch da war die Aufmerksamkeit dafür bereits abgeflaut.

Die Mobilisierung gegen die Dienstleistungsrichtlinie der EU (Bolkesteinrichtlinie genannt) im Februar 2006 in Straßburg war ein Test: Es wurden Fortschritte in der Zusammenarbeit erzielt, aber im Endergebnis wurde klar, dass es noch ein weiter Weg war, die Gewerkschaftsbewegung und die sozialen Bewegungen zusammenzubringen und ein Kräfteverhältnis zu schaffen, das ausgereicht hätte, die neoliberale Politik auf europäischer Ebene zurückzuschlagen. Dies war umso schwerer, als diese Bewegungen sich mehr oder weniger, je nach Lage in den einzelnen Ländern, auch an politischen Neuformierungsprozessen beteiligt haben (so in Frankreich, Italien, Deutschland…)

Stoßen die sozialen Bewegungen an ihre Grenzen?
Auf unseren europäischen Koordinationen in Köln im Jahr 2007 haben wir nach der Zukunft unseres Netzwerks und der europäischen Bewegungen gefragt. Anders als andere Organisationen, Vereine, Gewerkschaften, Parteien haben wir keinen Apparat, kein Büro, keine Hauptamtlichen. Wir sind ein Zentrum für Initiativen mit variabler Geometrie, je nach Land und Jahr. Strukturen wie Attac-Europa koordinieren strukturierte nationale Organisationen, mit Mitgliedern etc. Wir arbeiten mit dem, was die engagiertesten Organisationen im Netz uns für die Mobilisierungen zur Verfügung stellen.
Der G8-Gipfel in Heiligendamm 2007 zog uns erneut in die Mobilisierungsdynamik. Doch unsere Bilanz danach war sehr gemischt. Neu war nur, dass wir nicht die einzigen waren, die sich Fragen stellten hinsichtlich der Nützlichkeit der globalisierungskritischen Bewegung und unseres eigenen Netzwerks.

Im Hinblick auf den Kampf gegen Erwerbslosigkeit und gegen die Prekarisierung unserer Arbeits- und Lebensbedingungen haben wir uns weiter ausgetauscht über die Entwicklungen in unseren jeweiligen Ländern, aber wir waren nicht in der Lage, ein wirklich handlungsfähiges Netzwerk auf die Beine zu stellen. Die Erwerbslosenorganisationen organisieren dort, wo sie überhaupt existieren, hauptsächlich Langzeitarbeitslose, die allmählich auf Sozialhilfeniveau gedrückt wurden oder in Rente gegangen sind. Die Gewerkschaften nehmen an die Organisierung der Erwerbslosen kaum teil, verlieren Mitglieder und gewinnen unter den Prekären wenig neue hinzu.
Auf den Sozialforen nehmen Gewerkschaften oder Initiativen durchaus teil an den Angeboten der Euromärsche, vor allem in Athen und Istanbul. Darauf folgt aber nichts… Die europäische Ausdehnung der Gewerkschaftsarbeit ist prekär geblieben, weil der EGB, zum großen Leidwesen eines seiner Gründer, Georges Debunne, zu einem Transmissionsriemen der EU geworden ist. Doch die Globalisierung und Zentralisierung des Kapitals haben eine neue Situation geschaffen: In Deutschland ist die Forderung nach einem Mindestlohn kein Tabu mehr, weil der Flächentarif durch den Anschluss der DDR ausgehöhlt wurde. In den Gewerkschaften ist etwas in Bewegung geraten, neue Organisationsformen junger Prekärer entstanden, die sich nicht als Erwerbslose betrachten, sondern sich den Kampfzielen bestehender Organisationen oder Gewerkschaften anschließen, die ihnen näher zu stehen scheinen: mit Forderungen zu ihrem Status als Erwerbstätige, zu den Arbeitsverträgen, der Absicherung ihrer Qualifikation etc.

Wie der belgische Ökonom, Allaluf Mateo, sagte: Der Kapitalismus hat die Schlacht des 20.Jahrhunderts gewonnen und die Errungenschaften der Arbeiterbewegung und der sozialen Bewegungen in Frage gestellt. Am Anfang des 21.Jahrhunderts stecken wir mitten in einem umfassenden Umgruppierungsprozess <\#208> auf wirtschaftlicher, sozialer, kultureller. gewerkschaftlicher, politischer etc. Ebene.
Wir sind Teil dieses Prozesses, weil der neoliberale Kapitalismus unsere Zukunft bedroht und weil die Zeit drängt, dass die Tendenz umgedreht und konkrete Alternativen gefragt sind, insbesondere auf die sozialen Probleme.
Krisenjahre. Neue Erfahrungen und Herausforderungen

Krisen sind nie ein Grund zur Freude und wir wissen, dass es immer die Schwächsten sind, die dafür bezahlen müssen. Doch die letzte Krise hat die Lage in Europa verändert. Selbst der EGB hat sich nun gegen die jüngsten europäischen Verträge gewandt, nachdem sie dem Lissabonvertrag 2005 noch zugestimmt hatte.

Ausgehend von den Erfahrungen der Europäischen Sozialforen und deren Grenzen, haben sich Teile der Gewerkschaften und Nicht-Regierungsorganisationen oder Initiativen im Netzwerk Joint Social Conference (JSC) zusammengeschlossen und treten Anfang November 2012 in Florenz zusammen mit politischen europäischen Netzwerken wie Transform auf, um für einen Gegengipfel (Altersummit) 2013 zu werben. Nunmehr soll es nicht allein darum gehen, Analysen auszutauschen, sondern auch darum, Alternativen vorzuschlagen und die Bevölkerungen in Europa gemeinsam gegen die katastrophalen Folgen der aktuellen Sparpläne und gegen die steigende Arbeitslosigkeit zu mobilisieren. Die Euromärsche sind deshalb daran beteiligt.

Auf der anderen Seite zeigen die Umstürze in der arabischen Welt, die Bewegungen der Empörten, Aktionen vom Typ “Occupy” usw., dass die Gesellschaften zu Anfang dieses Jahrhunderts von tiefgreifenden Revolten erschüttert werden, bei allem unterschiedlichen Verlauf in den einzelnen Ländern. Ein gemeinsames Merkmal ist die zahlreiche Beteiligung junger Akademiker ohne Aussicht auf Arbeit.
Was sie aber in Europa erwartet, ist eine Verallgemeinerung von Hartz IV. Das konnte man zuletzt in den Aktionen von Blockupy vom 17. – 19.Mai feststellen, an denen die Euromärsche teilgenommen haben.

Neben prekären Erwerbsaussichten sind wir zunehmend mit der Pauperisierung großer Teile der Bevölkerung zugunsten einiger Oligarchen konfrontiert. Während die Euromärsche für eine europäischen Mindestlohn eintreten, machen sie sich auch, zusammen mit dem Europäischen Netzwerk gegen Armut (EAPN, im Oktober 2010 im Europaparlament in Brüssel) für eine Mindestsicherung stark, die ein Leben in Würde, nicht nur ein Überleben ermöglicht: Ein Fünftel der Bevölkerung in der EU, vorwiegend in den Länder Mittel- und Osteuropas, lebt heute schon unterhalb der Armutsgrenze, Tendenz steigend, und das, wo Europa zu den reichsten Kontinenten der Erde zählt!

In dieselbe Richtung weist das Verschwinden des Status der Erwerbslosigkeit: Die Arbeitslosenversicherung verwandelt sich allmählich in eine zwangsarbeitsbewehrte Sozialhilfe, vor allem für Frauen. In Ländern wie den Niederlanden spricht man in zwischen von Erwerbslosen als von “sozial Behinderten”, die nur um den Preis von sog. “Bürgerarbeit” das Überleben verdienen. In Frankreich verbringen die Jobcenter, die dafür da sind, den Arbeitslosen Geld und Hilfe auszuzahlen und ihnen bei der Arbeitssuche zu helfen, ihre Zeit vor allem damit, sie von den Listen der Leistungsempfänger zu streichen, um die Statistiken zu schönen und ihnen auch noch das letzte Einkommen zu nehmen.

Angesichts dieser Lage müssen die Euromärsche wie auch die anderen sozialen und politischen Bewegungen ihren Zweck, ihre Strategien und Bündnisse heute gründlich überdenken, damit sie eine Antwort finden auf eine Situation, die sich noch vor kurzem niemand so finster vorgestellt hätte – mit der Rückkehr zu den 30er Jahren und selbst zu einer Nazipartei wie der Goldenen Morgenröte in Griechenland. Allerdings zeigt der steile Aufschwung von Syriza, einem Bündnis, an dem auch die radikale Linke beteiligt ist, dass das Schlimmste nicht unabwendbar ist.

Michel Rousseau
Übersetzung aus dem Französischen: Angela Klein
31.10.2012

Links und Bibliographie:

  •     https://www.euromarches.org
  •     http://canalmarches.org (ein Video- und Filmkanal, der zusammen mit den Märschen lanciert wurde). Hier gibt es auch Filme von den Märschen von Patrice Spadoni.
  •     Georges Debunne, “Der Europäische Gewerkschaftsbund und der Kampf für europäische Tarifverträge”. Ein Auszug aus seiner letzten Veröffentlichung: “A quand l’Europe Sociale?”, Edition Syllepse, Paris 2003. Auf deutsch erschienen in: Angela Klein, Paul B.Kleiser (Hg.): “Die EU in neoliberaler Verfassung”, Köln: 2006, Neuer ISP Verlag.
  •     Europäische Märsche gegen Erwerbslosigkeit, ungeschützte Beschäftigung und Ausgrenzung (Hg.), “Europäische Versammlung der Erwerbslosen und prekär Beschäftigten in Paris, 2.–4-Dezember 2000″. Materialien und Informationen. Nur noch als pdf-Datei erhältlich (zu bestellen über: redaktion@soz-verlag.de).