Pierre Bourdieu:

Gegen die Politik der Entpolitisierung:
Die Ziele der europäischen Sozialbewegung

Hinter der scheinbaren Zwangsläufigkeit der ökonomischen Entwicklungen wenigstens der letzten beiden Jahrzehnte verbirgt sich in Wahrheit eine Politik, die freilich paradox ist - insofern es sich dabei nämlich um eine Politik der Entpolitisierung handelt. Denn ihr Ziel bestand und besteht darin, den Kräften der Ökonomie, indem sie all ihre Fesseln löst, einen sich schicksalhaft auswirkenden Einfluß zu geben: sie will nichts anderes, als die Staaten und ihre Bürger den derart entfesselten Gesetzen der Ökonomie unterwerfen. Alles das, was man unter dem zugleich deskriptiven und normativen Begriff der »Globalisierung« faßt, ist keineswegs das Ergebnis zwangsläufiger ökonomischer Entwicklungen, sondern einer ausgeklügelten und bewußt ins Werk gesetzten, ihrer verheerenden Folgen allerdings kaum bewußten Politik. Diese Politik hat liberale oder gar sozialdemokratische Regierungen einer ganzen Reihe von wirtschaftlich fortgeschrittenen Ländern dazu verleitet, ihren früheren Einfluß auf die Kräfte der Ökonomie völlig aufzugeben. Es ist vor allem diese Politik, die in den geheimen Sitzungen der großen internationalen Organisationen wie der WTO oder der EU, oder innerhalb all der »Netzwerke« multinationaler Unternehmen entwickelt wurde, die heute ihren Willen auf den verschiedensten Wegen - und das sind in erster Linie juristische - den einzelnen Staaten aufzunötigen imstande scheint.

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Deshalb geht es nun darum, gegen diese Politik der Entpolitisierung und Entmobilisierung die Politik, politisches Denken und Handeln wiederherzustellen, und für dieses Handeln eine geeignete Ansatzstelle zu finden, der heute jenseits der Grenzen des Nationalstaats liegen müßte, und die dazu erforderlichen Mittel, die sich nun nicht mehr auf die politischen und gewerkschaftlichen Kämpfe innerhalb des nationalstaatlichen Rahmens beschränken können. Zugegeben ist ein solches Unternehmen aus verschiedensten Gründen nur sehr schwer umzusetzen: zunächst, weil die politischen Instanzen, die es zu bekämpfen gilt, nicht nur geographisch weit entfernt sind, und ihre Methoden oder Akteure kaum mehr denen jener politischen Instanzen ähneln, auf die sich die traditionellen Kämpfe gerichtet hatten. Ferner weil die Macht der Akteure und Institutionen, die heutzutage die Herrschaft über Wirtschaft und Gesellschaft ausüben, auf einer außerordentlichen Konzentration aller möglichen Arten von (wirtschaftlichem, politischem, militärischem, kulturellem, wissenschaftlichem, technologischem) Kapital beruht, Grundlage einer noch nie dagewesenen symbolischen Herrschaft, die vor allem über den Einfluß der Medien ausgeübt wird, die dabei häufig selbst und ohne ihr Wissen manipuliert werden.

Dazu kommt noch, daß bestimmte Ziele eines wirkungsvollen politischen Handelns auf europäischer Ebene angesiedelt sein müssen - zumindest insoweit europäische Unternehmen und Organisationen ein bestimmendes Element der herrschenden Kräfte im globalen Maßstab geworden sind. Das heißt nichts anderes, als daß die Schaffung einer vereinigten europäischen Sozialbewegung, die unterschiedlichste, gegenwärtig noch gespaltene Bewegungen sowohl auf nationaler wie auf internationaler Ebene vereinigen müßte, sich zu einem unabweisbaren Ziel für all jene darstellt, die den herrschenden Kräften des Marktes wirkungsvoll begegnen wollen.

 

Vereinigen, ohne zu vereinheitlichen

Diese sozialen Bewegungen, so unterschiedlich sie auch aufgrund ihrer jeweiligen Ursprünge, Anliegen und Ziele sind, besitzen eine ganze Reihe gemeinsamer Züge, die ihnen eine Art Familienähnlichkeit verleihen. An erster Stelle besitzen diese Bewegungen eine ausgeprägte Abneigung gegen jede Monopolisierung durch kleine Minderheiten, sie beruhen im Gegenteil auf einer eine unmittelbaren Einbindung aller Beteiligten. Dies vor allem, weil sie oft aus der Ablehnung traditioneller Formen der politischen Mobilisierung, insbesondere der Parteien sowjetischen Typs hervorgegangen sind. In dieser Hinsicht stehen sie der libertären Tradition nahe, ziehen selbstverwaltete Organisationsformen vor, die, wendig und schlagkräftig, den beteiligten die Möglichkeit eröffnen, wieder als aktive Subjekte ins Geschehen einzugreifen - gegen jene Parteien, deren Monopol auf politisches Handeln sie in Frage stellen. Ein weiterer gemeinsamer Zug besteht darin, daß sie auf greifbare und wesentliche Ziele hin ausgerichtet sind (Wohnung, Arbeit, Gesundheit usw.), umsetzbare Lösungen anbieten, und immer wieder zu gewährleisten versuchen, daß ihre Vorschläge oder auch ihre Ablehnung exemplarisch und direkt in Aktionen verbunden sind, in denen das betreffenden Problem Gestalt annimmt. Eine dritte Gemeinsamkeit: sie alle lehnen die neoliberale Politik ab, die willfährig den Zielen der multinationalen Großunternehmen zur Durchsetzung verhilft. Und ein letztes gemeinsames Merkmal ist ihre solidarische Haltung, eine Art unausgesprochener Grundsatz, der sich auf die Betroffenen (die »-losen«, Obdachlosen, Arbeitslosen usw.) ebenso bezieht wie auf die Unterstützung anderer Bewegungen.

Die Feststellung einer solchen Nähe bei Mitteln und Zielen des politischen Kampfes erfordert vielleicht nicht unbedingt eine Vereinigung der überall und verstreut tätigen Gruppen (die zweifelsohne weder machbar noch erstrebenswert wäre), ein Schulterschluß, der gerade von den jungen Aktivisten häufig gefordert wird, weil die tatsächlichen Übereinstimmungen und Überschneidungen immer wieder deutlich werden: aber sie verlangen doch eine Koordination der Forderungen und des Vorgehens, ohne daß damit irgendwelche Vereinnahmungsabsichten verbunden wären. Diese Koordination müßte die Form eines Netzwerks annehmen, in dem sich Einzelne und Gruppen zusammenschließen könnten, ohne daß irgendwer die anderen beherrschen oder einschränken kann, und in dem der gesamte Reichtum der unterschiedlichen Erfahrungen, Sichtweisen und Ziele gewahrt bliebe. Ihm käme vor allem die Aufgabe zu, die noch zersplitterten sozialen Bewegungen aus ihrem Partikularismus, den lokalen, temporären und punktuellen Zusammenhängen zu reißen und ihnen dabei zu helfen, die Regellosigkeit, den andauernden Wechsel zwischen intensiver Mobilisierung und einer latenten, vor sich hin treibenden Existenz zu überwinden, ohne dabei jener bürokratischer Konzentration Raum zu geben, die gerade ihre besonderen Möglichkeiten zerstört.

Gleichzeitig flexibel und stabil, müßte diese Organisation dann zwei verschiedene Vorhaben in Angriff nehmen: zum einen bei jeweils kurzfristig anberaumten und auf die jeweiligen Umstände bezogenen Treffen aufeinander abgestimmte und auf greifbare Ziele gerichtete Aktionen vorbereiten. Zum anderen während fester und regelmäßiger Zusammenkünfte (wie bei den für Wien und Athen vorgesehenen Veranstaltungen) der Vertreter aller betroffenen Gruppen allgemein bedeutsame Fragen zur Diskussion stellen und gemeinsam an langfristigen Zielsetzungen arbeiten. Es käme hier darauf an, im Überschneidungsbereich der Betätigungsfelder der einzelnen Gruppen allgemeine Ziele auszumachen und zu entwickeln, bei deren Verwirklichung alle mitwirken und dabei ihre jeweiligen Möglichkeiten und Mittel beisteuern könnten - man darf getrost hoffen, daß sich aus dieser demokratischen Begegnung einer Vielzahl von Menschen und Gruppen, die einige wesentliche Vorstellungen und Überzeugungen teilen, allmählich ein Bündel von zusammenhängenden und sinnvollen Antworten auf jene grundlegenden Fragen ergibt, für die weder die Gewerkschaften noch die Parteien weltumspannende Lösungen anbieten können.

Die Erneuerung der Gewerkschaftsbewegung

Eine europäische Sozialbewegung ist natürlich kaum denkbar, ohne daß die Gewerkschaften in ihr mitwirken, vorausgesetzt allerdings, sie überwinden die äußeren und inneren Hürden, die ihrem Erstarken und ihrer Einigung auf europäischer Ebene im Wege stehen. Es wirkt nur dem Anschein nach paradox, den Niedergang der Gewerkschaftsbewegung für eine mittelbare und zeitlich verzögerte Wirkung ihres Triumphes zu halten. Viele Forderungen, die hinter den gewerkschaftlichen Kämpfen standen, sind zu Institutionen geworden, die nun, als soziale Rechtsbestände, wesentliche Streitfragen zwischen den Gewerkschaften selbst aufwerfen. Als parastaatliche, oft vom Staat selbst finanzierte Instanzen sind die Gewerkschaftsbürokratien an der Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums beteiligt, sie sichern einen sozialen Kompromiß, der dazu anhält, Konfrontationen zu meiden. Es kommt immer wieder vor, daß die Verantwortlichen in den Gewerkschaften zu Verwaltern dieses Kompromisses werden, denen die Sorgen und Nöte ihrer Mandanten fern gerückt sind. Und es kann dann geschehen, daß sie die Logik der Konkurrenz zwischen den Apparaten oder innerhalb der Apparate dazu verführt, die eigenen Interessen eher zu verteidigen als die Interessen derer, die sie eigentlich vertreten sollten. Dies hat zu einem nicht geringen Teil dazu beigetragen, die Beschäftigten den Gewerkschaften zu entfremden und sogar den Gewerkschaftsmitgliedern eine aktive Mitgestaltung in der Organisation zu verleiden.

Freilich können diese Entwicklungen im Innern alleine nicht erklären, daß die organisierten Gewerkschafter immer weniger und zunehmend weniger aktiv werden. Die neoliberale Politik trägt auch hier ihren Teil zur Schwächung der Gewerkschaften bei. Die »Flexibilisierung« und vor allem die Prekarisierung einer wachsenden Zahl von Beschäftigungsverhältnissen und der daraus sich ergebende Wandel der Arbeitsbedingungen und Arbeitsanforderungen bewirken, daß ein gemeinsames Vorgehen und selbst die einfache Informationsarbeit immer schwieriger werden, während die Reste der sozialen Sicherung weiterhin einen Teil der Beschäftigten unterstützen. Dies hält vor Augen, wie unerläßlich, aber auch wie schwierig eine Reform gewerkschaftlicher Arbeit ist, eine Reform, die eigentlich Ämterotation, eine Infragestellung des Modells der uneingeschränkten Delegation ebenso voraussetzte wie die Erfindung neuer Techniken zur Mobilisierung der neuen, ungesicherten und randständigen Beschäftigten.

Die vollkommen neuartige Organisation, auf deren Schaffung es hier ankäme, müßte also imstande sein, die Zersplitterung der Gewerkschaftsbewegung selbst, ihre unterschiedlichen Ziele und nationalen Zugehörigkeiten gleichermaßen zu überwinden wie die Teilung in Gewerkschaften und »Bewegungen«, und all dies unter Umgehung der über all diesen Gruppen schwebenden Gefahr der Monopolisierung und Resistenz gegenüber Veränderungen, die sich oft in einer beinahe schon neurotischen Furcht ausdrücken. Die Schaffung eines solchen dichten und wirksam arbeitenden internationalen Netzwerks von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen, die durch gegenseitigen Austausch, etwa bei den »Generalständen der europäischen Sozialbewegung« (»Etats généraux«) neue Anstöße erhielten, müßte ein mit bestimmten Forderungen auftretendes internationales Vorgehen nach sich ziehen, das nichts mehr gemein hätte mit der Arbeit solch offizieller Institutionen, in denen die Gewerkschaften ja vertreten sind (wie der Europäische Gewerkschaftsbund), ein Vorgehen, das auch die Arbeit all jener Bewegungen einbegriffe, die sich jeden Tag ihren ganz besonderen und scheinbar begrenzten Schwierigkeiten gegenüber sehen.

Wissenschaftler und Aktivisten

Diese Arbeit zur Überwindung der Spaltungen zwischen den sozialen Bewegungen und zur Sammlung aller verfügbaren Kräfte gegen die ihrerseits bewußt und fein aufeinander abgestimmten (man denke etwa an das Forum von Davos) herrschenden Kräfte muß sich auch auf die Überwindung einer ebenso unheilvollen Spaltung richten, nämlich die zwischen Wissenschaftlern und Aktivisten. Angesichts des gegenwärtigen Standes der ökonomischen und politischen Kräfteverhältnisse, wo die Mächte der Ökonomie in der Lage sind, in einer noch nie dagewesenen Weise und bisher unbekanntem Ausmaß wissenschaftliche, technische und kulturelle Ressourcen in ihren Dienst zu stellen, kommt der Arbeit der Forschung größte Bedeutung zu, gerade um solche Strategien aufzudecken und auseinander zu nehmen, die von bestimmten multinationalen Unternehmen und internationalen Organisationen erarbeitet und umgesetzt werden, Organisationen, die wie die WTO universell gültige Regeln beschließen und durchsetzen, durch die eine neoliberale Utopie allgemeiner Deregulierung zunehmend Wirklichkeit zu werden droht. Die gesellschaftlichen Hürden für einen solchen Schulterschluß sind nicht weniger hoch als die, welche zwischen verschiedenen Bewegungen oder zwischen ihnen und den Gewerkschaften stehen. Trotz ihrer Unterschiedlichkeit, der oft verschiedenen Ausbildungen und meist ganz anderen sozialen Karrieren müssen Forscher, die sich aktiv in einer Bewegung engagieren ebenso wie die dort Aktiven noch lernen, miteinander zu arbeiten und alle Vorbehalte ablegen, die sie möglicherweise den anderen gegenüber haben, müssen sich der vielen eingeschliffenen Vorurteile entledigen, die mit ihrer Zugehörigkeit zu ganz unterschiedlichen Welten und der Unterwerfung unter ihre besonderen Gesetzen einhergehen, und das kann nur mit Hilfe neuartiger Formen der Kommunikation und Diskussion vonstatten gehen. Auch dies ist eine der Voraussetzungen dafür, daß es zur kollektiven Erfindung eines kohärenten, durch die kritische Konfrontation der jeweiligen Erfahrungen aufeinander abgestimmten Bündels von Antworten kommen kann, die ihre politische Überzeugungskraft dem Umstand schulden, daß sie zugleich systematisch entworfen und kollektiv gestützt, in gemeinsamen Wünschen und Überzeugungen verankert sind.

Einzig und allein eine europäische Sozialbewegung, die sich der in den unterschiedlichen Organisationen der verschiedensten Länder angesammelten Kräfte und Mittel bedienen, die sich der bei ähnlichen Treffen wie den »Generalständen« ausgetauschten Informationen, der dort gemeinsam erarbeiteten Instrumente des Widerstands versichern kann, wird überhaupt in der Lage sein, der ökonomischen und symbolischen Macht der multinationalen Unternehmen und ihren Armeen von Beratern und Experten etwas entgegenzusetzen, in der Lage auch, an die Stelle jener allein dem Gebot kurzfristiger Profitmaximierung gehorchenden und zynisch durchgesetzten Vorgaben die in jeder Hinsicht demokratischen Ziele eines mit ausreichend politischen, juristischen und finanziellen Mitteln ausgestatteten europäischen Sozialstaats zu stellen, um der rohen und gewalttätigen Kraft engstirniger ökonomischen Interessen Einhalt gebieten zu können.

 

Übersetzung: Andreas Pfeuffer

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