Der Beschluß zur Erstellung einer Grundrechtecharta der EU geht auf den Kölner
Gipfel im Juni 1999 zurück: »Der Europäische Rat ist der Meinung, daß im
gegenwärtigen Entwicklungsstadium der EU die Grundrechte, die in der Union in
Kraft sind, in einer Charta zusammengefaßt werden sollen, um ihnen eine größere
Sichtbarkeit zu verleihen.«
Der Folgegipfel im Oktober 1999 in Tampere setzte einen Konvent zu ihrer
Erarbeitung ein. Er besteht aus 63 Mitgliedern: Vertreter der Regierungen der 15
Mitgliedstaaten, Vertreter der Nationalparlamente und Vertreter des Europäischen
Parlaments. Den Vorsitz führt Roman Herzog. Dessen Büro, das »Präsidium des
Konvents«, legte am 28. Juli einen Entwurf vor. Die Vertretergruppen, die den
Konvent bilden, hatten bis Mitte September Zeit, ein Votum abzugeben. Roman
Herzog will den Entwurf Mitte Oktober auf dem Gipfel in Biarritz vorstellen. In
Nizza soll die Charta dann feierlich proklamiert werden.
Der Streit um die Charta
In EU-Regierungskreisen sind Charakter, Inhalt und Verbindlichkeit der Charta
äußerst umstritten. Vorneweg befürchtet die britische Regierung einmal mehr, es
würden der EU damit neue Kompetenzen und neue Aktionsfelder zuerkannt, die ihr
keinesfalls zustünden.
Solchen Befürchtungen versucht der Konventsvorsitzende Roman Herzog allerdings
den Wind aus den Segeln zu nehmen: »Es darf keine neuen Zuständigkeiten für die
Europäische Union geben«. Die Grundrechtecharta habe ja gerade das Ziel, die
Macht der EU-Organe zu beschränken. Sie definiere in erster Linie
Freiheitsrechte des Bürgers gegenüber dem Staat, keine Ansprüche auf Leistungen.
»Der Vorwurf, die Grundrechte seien der Grundstein für einen europäischen Staat,
geht deshalb an der Wirklichkeit vorbei«, kommentiert gleichfalls eine Broschüre
der Vertretung der Europäischen Kommission in Deutschland die Debatte. »Mit der
Grundrechtecharta allein ist im wahrsten Sinne des Wortes kein Staat zu machen.«
Wer in Grundrechten keine Schutzrechte der Bürger, sondern unzulässige
Eingriffsrechte des Staates sieht, der ist natürlich auch gegen die Einführung
sozialer Grundrechte. Aus derselben Ecke kommen deshalb Forderungen, nur
allgemeine Menschenrechte und Freiheitsrechte aufzunehmen. Dies entspreche dem
tatsächlichen Stand der EU, die für die meisten Teilgebiete der Sozialpolitik
nicht zuständig sei, weder für die Sozialhilfe noch für das Wohngeld. Sie solle
deshalb keine falschen Versprechungen machen. Schon gar nicht dürften die Rechte
einklagbar sein: das verschaffe der EU nur unzulässige neue Kompetenzen und
bürde den Mitgliedstaaten zusätzliche Lasten auf.
Nun hatte der Kölner Gipfel sich aber festgelegt, »wirtschaftliche und soziale
Rechte seien zu berücksichtigen« - allerdings »in dem Maße wie sie nicht nur
Ziele für das Handeln der Union begründen«.
Das ist die Sache und ihr Gegenteil. Einerseits wird so getan, als gebe es in
der EU einen gemeinsamen Rechtsraum für die »unteilbaren und universellen
Grundsätze der Würde der Männer und Frauen, der Freiheit, der Gleichheit und der
Solidarität«, für den »Grundsatz der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit«,
wie es in der Präambel zum Entwurf (Art. 2) heißt. Gleichzeitig werden
Zuständigkeiten und Aufgaben der Gemeinschaft jedoch an den Grundsatz der
Subsidiarität gebunden (Art. 5). Die EU darf also nicht in Aktion treten, wo die
Mitgliedstaaten das können.
An der Formulierung der sozialen Rechte in einer Weise, daß sie faktisch aus der
Charta wieder herauseskamotiert werden, hat die deutsche Seite einen erheblichen
Anteil. Nicht nur über den Konventspräsidenten. Auch die Europaminister der
deutschen Bundesländer haben auf ihrer Konferenz Ende Mai 2000 eine sehr
kritische Stellungnahme zu einem umfassenden Katalog sozialer Rechte abgegeben:
»Der Entwurf der Grundrechtecharta hat sich streng an das Mandat des
Europäischen Rates von Köln zu halten. Danach sind die wirtschaftlichen und
sozialen Rechte lediglich zu »berücksichtigen«, und zwar allein dann, wenn sie
nicht nur Ziele für das Handeln der Union begründen. Es soll ein Katalog von
Rechten erstellt werden, der die Bindung der Europäischen Union an die
fundamentalen Rechtsüberzeugungen der Mitgliedstaaten für die Unionsbürger
deutlich sichtbar macht. Nicht geht es um ein politisches Grundsatzprogramm der
Union. Politische Zielbstimmungen scheiden mithin aus.
Des weiteren darf es mit der Charta zu keinerlei Kompetenzausweitung auf der
Ebene der Europäischen Union kommen. Eine detaillierte Befassung mit
Sachverhalte, für deren Regelung die Union nicht zuständig ist, mindert die
angestrebte Wirkung der Charta, da die Union in diesen Bereich Rechte nicht
selbst gewähren kann.«
Allenfalls könnten sich die deutschen Bundesländer dazu herablassen, den
Grundsatz der Solidarität in der zukünftigen Präambel zu verankern. Damit würde
»eine zusätzliche Werteentscheidung getroffen«.
Viel Weihrauch also, und nichts Konkretes. Vor allem soziale Rechte verbleiben
in den Verfassungen der Mitgliedstaaten und in Dokumenten, die die EU dazu
früher verabschiedet hat. Konstitutiver Teil der EU-Verträge werden sie nicht.
Es gibt im Entwurf der Charta nicht einmal einen ausdrücklichen Verweis auf die
EU-Sozialcharta, und auf die EU-Charta über die Grundrechte der Arbeitnehmer. Es
gibt einen ausdrücklichen Hinweis auf die Europäische Menschenrechtskonvention
(1951), die aber ihrerseits nur Bürgerrechte und politische Rechte enthält,
keine sozialen und kulturellen Rechte, wie sie in der Allgemeinen
Menschenrechtserklärung (1948) enthalten sind.
Konstitutiver Teil der Grundrechtecharta ist etwas anderes, was bereits das
Herzstück der EU-Verträge ist: die Sicherstellung des freien Personen-, Waren-,
Kapitals- und Dienstleistungsverkehrs. Die Garantie des freien Marktes sichert
laut Art. 3 der Präambel eine »ausgewogene und nachhaltige Entwicklung«.
Wenn die Grundrechtecharta im Einklang mit den EU-Verträgen stehen will, darf
sie über den von diesen gesteckten Rahmen nicht hinausgehen. Die Verträge aber
sind auf sozialem Gebiet äußerst restriktiv: Nichts darf die freie
Kapitalzirkulation behindern.
Ein Rückschritt
Was ist schlimm an einer schlechten Charta? Sind wir nicht bis jetzt ganz gut
ohne ausgekommen?
Das Europäische Parlament hat diese Frage am 16.März in einer Resolution
beantwortet. Darin heißt es:
»Die Freiheiten und Grundrechte, die eng mit der Würde des Menschen gekoppelt
sind, bedürfen eines umfassenden und tatsächlichen rechtlichen Schutzes sowie
wirksamer Rechtssicherheiten. Der Vorrang des EU-Rechts und die bedeutende
Macht, die ihre Institutionen gegenüber dem Einzelnen ausüben, machen es
notwendig, daß der Schutz der Grundrechte auf EU-Ebene verstärkt wird.«"
(Hervorhebung von uns)
EU-Recht bricht also Staatenrecht. Wenn fortschrittlicheres Recht auf der Ebene
der Staaten oder Länder mit rückschrittlicherem EU-Recht in Konflikt tritt, gilt
letzteres. In dem Maße, wie die EU mehr Aufgaben und Zuständigkeiten zugespochen
bekommt, ihr Machtbereich sich vergrößert, verlieren nationalstaatliche
Regelungen an Gewicht. Wenn eine EU-Verfassung in Kraft tritt - und mindestens
der deutsche Außenminister arbeitet daraufhin - und den vorgesehenen
Grundrechtekatalog als Bestandteil aufnimmt, ist ein halbes Jahrhundert an
Kämpfen um rechtlich garantierte soziale Errungenschaften dahin.
Das Europäische Parlament verweist in seiner Resolution noch auf folgenden
Tatbestand: »Die fortschreitenden Zuständigkeiten der Europäischen Union, vor
allem auf dem sensiblen Gebiet der inneren Sicherheit, in Verbindung mit den
Grenzen, die der parlamentarischen und juristischen Kontrolle auf diesem Gebiet
gesetzt sind, bewirken, daß die Annahme einer europäischen Charta der
Grundrechte eine dringende Notwendigkeit ist. Man muß aufpassen, daß die
Entwicklung der Union nicht zu einem Ungleichgewicht zwischen ihrem Bedürfnis
nach Sicherheit und den Grundsätzen von Freiheit und Recht führt.«
»Sowohl im Rahmen des EU-Vertrags als auch des EU-Rechts können Grundrechte
ohne parlamentarische Rechtfertigung eingeschränkt werden, obwohl dies den
Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten entgegensteht.« (Hervorhebung von
uns)
»Die Entwicklung einer EU-weiten Außen- und Sicherheitspolitik in der
Perspektive einer gemeinsamen Verteidigungspolitik muß unter Achtung der
Grundrechte erfolgen. Es gibt ernsthafte Hinweise auf einen Aufschwung des
Rassismus und der Fremdenfeindlichkeit.«
Das Europaparlament fordert deshalb: »Die sozialen Grundrechte müssen gestärkt
und auf EU-Ebene weiterentwickelt werden«.
Der Entwurf der Charta schränkt die Grundrechte aber de facto auf die
Erfordernisse der Kapitalbewegungen ein. Formal bleiben damit die auf nationaler
Ebene bestehenden Rechte unberührt. Tatsächlich wird ihr Geltungsbereich aber
sukzessive entwertet, denn sie sind den allgemeinen Regeln des Wettbewerbs
unterzuordnen, wie sie in den EU-Verträgen und im Stabilitätspakt formuliert
sind. Anders als die sozialen Rechte sind die Wettbewerbsregeln aber
supranational definiert, sie haben EU-weit bindenden Charakter.
Angela Klein
aus: SoZ Nr. 19/00
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Der Text der Charta ist nachzulesen unter: http://db.consilium.eu.int/
(»Grundrechte«; »Suche«; Presidium (in der Autorenliste); Vollständiger Text der Charta, Datum vom 28.7.00)
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