EU-Grundrechtecharta

Politische Ziele nicht erwünscht

»Ich bin enttäuscht und besorgt über den Entwurf der Grundrechtecharta. Wenn der Text unverändert bleibt, werden wir einmal mehr eine Chance verpaßt haben, eine gute Maßnahme für die Bürger zu ergreifen. Der Entwurf muß abgelehnt werden, weil er Lücken hat, gegenüber bestehenden Dokumenten zurückfällt und zweideutig ist.«
Im Namen des Europäischen Gewerkschaftsbunds formulierte dessen Generalsekretär, Emilio Gabaglio, auf der gemeinsamen Pressekonferenz mit Vertretern sozialer Nicht-Regierungsorganisationen Ende August eine eindeutige Absage an die Grundrechtecharta der EU, die deren Regierungschefs im Dezember in Nizza feierlich verkünden wollen.
Die Charta falle hinter die nationale Gesetzgebung, internationale Konventionen und bestehende Dokumente der Union zurück. »Ich mache mir Sorgen über die übermäßige Anwendung des Prinzips der Subsidiarität auf dem Gebiet der sozialen Rechte. Dies schränkt die künftigen Aktivitäten der EU-Kommission für eine soziale Angleichung nach oben ein. Die Charta muß eine Projektion der nationalen Rechte auf die europäische Ebene sein.«

Homepage

Bundeskoordination

Übersicht/Archiv

Chronologie

Die Entwicklung der Euromärsche

 

EGB zur EU-Charta

 

 

Der Streit um die EU-Charta

Ein Rückschritt

Der Beschluß zur Erstellung einer Grundrechtecharta der EU geht auf den Kölner Gipfel im Juni 1999 zurück: »Der Europäische Rat ist der Meinung, daß im gegenwärtigen Entwicklungsstadium der EU die Grundrechte, die in der Union in Kraft sind, in einer Charta zusammengefaßt werden sollen, um ihnen eine größere Sichtbarkeit zu verleihen.«
Der Folgegipfel im Oktober 1999 in Tampere setzte einen Konvent zu ihrer Erarbeitung ein. Er besteht aus 63 Mitgliedern: Vertreter der Regierungen der 15 Mitgliedstaaten, Vertreter der Nationalparlamente und Vertreter des Europäischen Parlaments. Den Vorsitz führt Roman Herzog. Dessen Büro, das »Präsidium des Konvents«, legte am 28. Juli einen Entwurf vor. Die Vertretergruppen, die den Konvent bilden, hatten bis Mitte September Zeit, ein Votum abzugeben. Roman Herzog will den Entwurf Mitte Oktober auf dem Gipfel in Biarritz vorstellen. In Nizza soll die Charta dann feierlich proklamiert werden.

Der Streit um die Charta

In EU-Regierungskreisen sind Charakter, Inhalt und Verbindlichkeit der Charta äußerst umstritten. Vorneweg befürchtet die britische Regierung einmal mehr, es würden der EU damit neue Kompetenzen und neue Aktionsfelder zuerkannt, die ihr keinesfalls zustünden.
Solchen Befürchtungen versucht der Konventsvorsitzende Roman Herzog allerdings den Wind aus den Segeln zu nehmen: »Es darf keine neuen Zuständigkeiten für die Europäische Union geben«. Die Grundrechtecharta habe ja gerade das Ziel, die Macht der EU-Organe zu beschränken. Sie definiere in erster Linie Freiheitsrechte des Bürgers gegenüber dem Staat, keine Ansprüche auf Leistungen. »Der Vorwurf, die Grundrechte seien der Grundstein für einen europäischen Staat, geht deshalb an der Wirklichkeit vorbei«, kommentiert gleichfalls eine Broschüre der Vertretung der Europäischen Kommission in Deutschland die Debatte. »Mit der Grundrechtecharta allein ist im wahrsten Sinne des Wortes kein Staat zu machen.« Wer in Grundrechten keine Schutzrechte der Bürger, sondern unzulässige Eingriffsrechte des Staates sieht, der ist natürlich auch gegen die Einführung sozialer Grundrechte. Aus derselben Ecke kommen deshalb Forderungen, nur allgemeine Menschenrechte und Freiheitsrechte aufzunehmen. Dies entspreche dem tatsächlichen Stand der EU, die für die meisten Teilgebiete der Sozialpolitik nicht zuständig sei, weder für die Sozialhilfe noch für das Wohngeld. Sie solle deshalb keine falschen Versprechungen machen. Schon gar nicht dürften die Rechte einklagbar sein: das verschaffe der EU nur unzulässige neue Kompetenzen und bürde den Mitgliedstaaten zusätzliche Lasten auf.
Nun hatte der Kölner Gipfel sich aber festgelegt, »wirtschaftliche und soziale Rechte seien zu berücksichtigen« - allerdings »in dem Maße wie sie nicht nur Ziele für das Handeln der Union begründen«.
Das ist die Sache und ihr Gegenteil. Einerseits wird so getan, als gebe es in der EU einen gemeinsamen Rechtsraum für die »unteilbaren und universellen Grundsätze der Würde der Männer und Frauen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität«, für den »Grundsatz der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit«, wie es in der Präambel zum Entwurf (Art. 2) heißt. Gleichzeitig werden Zuständigkeiten und Aufgaben der Gemeinschaft jedoch an den Grundsatz der Subsidiarität gebunden (Art. 5). Die EU darf also nicht in Aktion treten, wo die Mitgliedstaaten das können.
An der Formulierung der sozialen Rechte in einer Weise, daß sie faktisch aus der Charta wieder herauseskamotiert werden, hat die deutsche Seite einen erheblichen Anteil. Nicht nur über den Konventspräsidenten. Auch die Europaminister der deutschen Bundesländer haben auf ihrer Konferenz Ende Mai 2000 eine sehr kritische Stellungnahme zu einem umfassenden Katalog sozialer Rechte abgegeben: »Der Entwurf der Grundrechtecharta hat sich streng an das Mandat des Europäischen Rates von Köln zu halten. Danach sind die wirtschaftlichen und sozialen Rechte lediglich zu »berücksichtigen«, und zwar allein dann, wenn sie nicht nur Ziele für das Handeln der Union begründen. Es soll ein Katalog von Rechten erstellt werden, der die Bindung der Europäischen Union an die fundamentalen Rechtsüberzeugungen der Mitgliedstaaten für die Unionsbürger deutlich sichtbar macht. Nicht geht es um ein politisches Grundsatzprogramm der Union. Politische Zielbstimmungen scheiden mithin aus.
Des weiteren darf es mit der Charta zu keinerlei Kompetenzausweitung auf der Ebene der Europäischen Union kommen. Eine detaillierte Befassung mit Sachverhalte, für deren Regelung die Union nicht zuständig ist, mindert die angestrebte Wirkung der Charta, da die Union in diesen Bereich Rechte nicht selbst gewähren kann.«
Allenfalls könnten sich die deutschen Bundesländer dazu herablassen, den Grundsatz der Solidarität in der zukünftigen Präambel zu verankern. Damit würde »eine zusätzliche Werteentscheidung getroffen«.
Viel Weihrauch also, und nichts Konkretes. Vor allem soziale Rechte verbleiben in den Verfassungen der Mitgliedstaaten und in Dokumenten, die die EU dazu früher verabschiedet hat. Konstitutiver Teil der EU-Verträge werden sie nicht. Es gibt im Entwurf der Charta nicht einmal einen ausdrücklichen Verweis auf die EU-Sozialcharta, und auf die EU-Charta über die Grundrechte der Arbeitnehmer. Es gibt einen ausdrücklichen Hinweis auf die Europäische Menschenrechtskonvention (1951), die aber ihrerseits nur Bürgerrechte und politische Rechte enthält, keine sozialen und kulturellen Rechte, wie sie in der Allgemeinen Menschenrechtserklärung (1948) enthalten sind.
Konstitutiver Teil der Grundrechtecharta ist etwas anderes, was bereits das Herzstück der EU-Verträge ist: die Sicherstellung des freien Personen-, Waren-, Kapitals- und Dienstleistungsverkehrs. Die Garantie des freien Marktes sichert laut Art. 3 der Präambel eine »ausgewogene und nachhaltige Entwicklung«. Wenn die Grundrechtecharta im Einklang mit den EU-Verträgen stehen will, darf sie über den von diesen gesteckten Rahmen nicht hinausgehen. Die Verträge aber sind auf sozialem Gebiet äußerst restriktiv: Nichts darf die freie Kapitalzirkulation behindern.

Ein Rückschritt

Was ist schlimm an einer schlechten Charta? Sind wir nicht bis jetzt ganz gut ohne ausgekommen?
Das Europäische Parlament hat diese Frage am 16.März in einer Resolution beantwortet. Darin heißt es:
»Die Freiheiten und Grundrechte, die eng mit der Würde des Menschen gekoppelt sind, bedürfen eines umfassenden und tatsächlichen rechtlichen Schutzes sowie wirksamer Rechtssicherheiten. Der Vorrang des EU-Rechts und die bedeutende Macht, die ihre Institutionen gegenüber dem Einzelnen ausüben, machen es notwendig, daß der Schutz der Grundrechte auf EU-Ebene verstärkt wird.«" (Hervorhebung von uns)
EU-Recht bricht also Staatenrecht. Wenn fortschrittlicheres Recht auf der Ebene der Staaten oder Länder mit rückschrittlicherem EU-Recht in Konflikt tritt, gilt letzteres. In dem Maße, wie die EU mehr Aufgaben und Zuständigkeiten zugespochen bekommt, ihr Machtbereich sich vergrößert, verlieren nationalstaatliche Regelungen an Gewicht. Wenn eine EU-Verfassung in Kraft tritt - und mindestens der deutsche Außenminister arbeitet daraufhin - und den vorgesehenen Grundrechtekatalog als Bestandteil aufnimmt, ist ein halbes Jahrhundert an Kämpfen um rechtlich garantierte soziale Errungenschaften dahin. Das Europäische Parlament verweist in seiner Resolution noch auf folgenden Tatbestand: »Die fortschreitenden Zuständigkeiten der Europäischen Union, vor allem auf dem sensiblen Gebiet der inneren Sicherheit, in Verbindung mit den Grenzen, die der parlamentarischen und juristischen Kontrolle auf diesem Gebiet gesetzt sind, bewirken, daß die Annahme einer europäischen Charta der Grundrechte eine dringende Notwendigkeit ist. Man muß aufpassen, daß die Entwicklung der Union nicht zu einem Ungleichgewicht zwischen ihrem Bedürfnis nach Sicherheit und den Grundsätzen von Freiheit und Recht führt.« »Sowohl im Rahmen des EU-Vertrags als auch des EU-Rechts können Grundrechte ohne parlamentarische Rechtfertigung eingeschränkt werden, obwohl dies den Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten entgegensteht.« (Hervorhebung von uns)
»Die Entwicklung einer EU-weiten Außen- und Sicherheitspolitik in der Perspektive einer gemeinsamen Verteidigungspolitik muß unter Achtung der Grundrechte erfolgen. Es gibt ernsthafte Hinweise auf einen Aufschwung des Rassismus und der Fremdenfeindlichkeit.«
Das Europaparlament fordert deshalb: »Die sozialen Grundrechte müssen gestärkt und auf EU-Ebene weiterentwickelt werden«.
Der Entwurf der Charta schränkt die Grundrechte aber de facto auf die Erfordernisse der Kapitalbewegungen ein. Formal bleiben damit die auf nationaler Ebene bestehenden Rechte unberührt. Tatsächlich wird ihr Geltungsbereich aber sukzessive entwertet, denn sie sind den allgemeinen Regeln des Wettbewerbs unterzuordnen, wie sie in den EU-Verträgen und im Stabilitätspakt formuliert sind. Anders als die sozialen Rechte sind die Wettbewerbsregeln aber supranational definiert, sie haben EU-weit bindenden Charakter.

Angela Klein
aus: SoZ Nr. 19/00

Der Text der Charta ist nachzulesen unter: http://db.consilium.eu.int/
(»Grundrechte«; »Suche«; Presidium (in der Autorenliste); Vollständiger Text der Charta, Datum vom 28.7.00)

  Fuss

 

 

Seitenanfang

Homepage

Bundeskoordination

 

E-Mail Webmasterin