Für ein soziales EuropaBericht von Europäischen Versammlung der Erwerbslosen und prekär Beschäftigten in Paris 2.- 4. 12.Vom 2.12. bis 4.12 fand in Paris in Vorbereitung auf den bevorstehenden EU-Gipfel in Nizza (7.12 bis 10.12.) die Versammlung der Erwerbslosen und ungeschützt Beschäftigten (assemblée des chômeurs et des précaires) statt. Eingeladen hatte die Initiative der Europäischen Märsche, die schon zu mehreren EU-Gipfeln 1997 in Amsterdam und 1999 in Köln bis zu 80.000 Erwerbslose aus ganz Europa zu Gegenkundgebungen mobilisiert hat. Die Europäischen Märsche setzen sich für ein soziales Europa von unten und für ein garantiertes Mindesteinkommen ein. Am Sonnabend, den 2.12.00, eröffneten in der »Bourse deTravail« 150 Teilnehmende die Versammlung der Erwerbslosen-Initiativen aus der EU. Am Sonntag, den 3.12., und Montag, den 4.12., wurde die Versammlung im supermodernen Gewerkschaftszentrum in Creteil, einem Vorort von Paris,fortgesetzt. Viele der Teilnehmer kamen aus Frankreich und den angrenzenden südeuropäischen Ländern, Belgien, den Niederlanden und Deutschland. Einige wenige Engländer, Griechen und Skandinavier konnten ihre Teilnahme in Paris ermöglichen. Prekarität statt Erwerbslosigkeit
Die Teilnehmerzahl widerspiegelt den Rückgang der Erwerbslosenbewegung in Europa. Wie in einem Einleitungsreferat dargelegt wurde, hat dies zum einen mit dem derzeitigen Wirtschaftsaufschwung (laut Europäische Zentralbank um die 2% in den nächsten Jahren) und der damit zusammenhängenden Absenkung der offiziellen Erwerbslosigkeit in der EU auf 16 Millionen zusammen. EU-Statistiken verkünden, allein im Jahr 2000 seien 2,5 Millionen Arbeitsplätze geschaffen worden. Dieselben Statistiken geben allerdings zu, daß es sich dabei in der Mehrzahl um ungeschützte, d.h. zeitlich befristete, oftmals nicht sozialversicherungspflichtige bzw. nicht tariflich abgesicherte Arbeitsplätze handelt. So nimmt trotz abnehmender Erwerbslosigkeit dennoch die Armut in der EU zu.
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Die Entwicklung der Euromärsche
Prekarität statt Erwerbslosigkeit Nasse Füße im Poldermodell - Armut trotz Arbeit Die EU-Charta: Unternehmerische Freiheit statt soziale Rechte |
Diese Situation lastet auf der Erwerbslosenbewegung; sie muß auf die neuen Herausforderungen neue politische Antworten finden, manchmal geht das auch mit organisatorischen Umstrukturierungen einher. In der Bundesrepublik ist es gelungen, die großen Organisationen der Erwerbslosen und Sozialhilfebeziehenden ähnlich wie in Frankreich um einen Tisch zu versammeln. Ähnliche Entwicklungen gibt es in Italien und Belgien. Deshalb waren die Delegationen aus diesen Ländern diesmal erheblich repräsentativer zusammengesetzt als früher. Zur italienischen Delegation gehörte auch ein starkes Kontingent von prekär Beschäftigten aus Neapel, die dort einen exemplarischen Kampf für unbefristete Arbeitsverträge führen, sowie Vertreter der unabhängigen Gewerkschaft Sin Cobas. Aus der Bundesrepublik waren erstmals alle bundesweiten Erwerbslosenorganisationen vertreten, darüber hinaus ein Betriebsrat von McDonalds und eine Vertreterin der Kampagne Citicritic. In der belgischen Delegation waren neben den Märschen auch Gewerkschafter des FGTB und Vertreter der Menschenrechtsliga. Die etablierten Gewerkschaften verhalten sich gegenüber Initiativen und NGOs auf europäischer Ebene abwartend. Bisher ist der Prozess der Vereinigung der 15 EU-Staaten, demnächst erweitert um weitere Staaten aus Osteuropa, eine Sache der europäischen Regierungschefs und der EU-Kommission. In der Regel werden sowohl die nationalen Parlamente sowie das europäischen Parlament wenig beteiligt, von den fehlenden Möglichkeiten von Volksbegehren und -abstimmungen für die 350 Millionen Einwohner Europas mal ganz abgesehen. Während der Hauptstreitpunkt der 15 EU-Regierungschefs in Nizza die Stimmenverteilung in der EU-Kommission und im Europaparlament war, brachten die europäische Gewerkschaften und die Euromärsche auf ihrer 80000 Menschen zählenden Gegendemo in Nizza am 6.12. ihre Befürchtung zum Ausdruck, dass das Europa von oben ein neoliberales Projekt der Großkonzerne bleibt und die Armutsbekämpfung auf dem Altar der Globalisierung geopfert werden soll. Nasse Füße im Poldermodell - Armut trotz Arbeit
In ihrem Eröffnungsreferat zeigte Angela Klein von Euromarsch/Deutschland den krassen Widerspruch in Europa auf, der darin besteht, dass zwar die Arbeitslosenzahl von rund 20 Millionen auf 16 Millionen bei einem prosperierenden Wirtschaftswachstum von 3 % gesunken ist, aber gleichzeitig die Armut von 50 Millionen auf 65 Millionen Menschen in der EU gestiegen ist. Während die Zahl der Arbeitslosen in der EU unter die 10 % Marke gedrückt wurde, liegt die Quote der Armen bei 18 %. Die Armutsgrenze wird durch die Hälfte des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen bestimmt. Der konkrete Geldbetrag für das Einkommen unterhalb der Armutsgrenze in Europa ist regional sehr unterschiedlich.
Die EU-Charta: Unternehmerische Freiheit statt soziale Rechte
Marie-Paule Connan von Euromarsch Belgien machte in ihrem Referat zur Auseinandersetzung mit der EU-Charta sehr deutlich, dass es nicht hinnehmbar ist, dass existierende soziale Rechte in den einzelnen Staaten durch die Verabschiedung der EU-Charta gefährdet werden. Die EU-Charta entwirft einen Albtraum von Europa mit armen Arbeitern ohne garantierte soziale Rechte im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Arbeitsunfall, Pflegebedürftigkeit, ohne Mindestlöhne, ohne garantiertes Existenzminimum für Sozialhilfeempfänger und Rentner. Alle diese aufgezählten Fälle werden nach »Maßgabe der Gemeinschaft und der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten« geregelt. Im Kapitel IV unter der Überschrift »Solidarität« werden die sozialen Rechte als nicht einklagbar festgelegt und dem Subsidaritätsprinzip der Einzelstaaten unterworfen. Ein Wettbewerb der Einzelstaaten um die schlechtesten Arbeitsbedingungen hat begonnen.
Sehr plastisch schilderte ein italienischer Delegierter die Situation der Erwerbslosen und ungeschützt Beschäftigten südlich von Neapel, der italienischen Hauptstadt der Arbeitslosen. Dort sind 25 % arbeitslos und diejenigen, die Arbeit haben, müssen diese überwiegend in ungeschützten Arbeitsverhältnissen leisten. Jeden Mittwoch demonstrieren in Neapel Arbeitslose und prekär Beschäftigte gemeinsam gegen die neoliberale Politik und gegen die Privatisierungsstrategie der italienischen Mitte-Links-Regierung in Rom für den Erhalt von Vollzeitarbeitsplätzen im öffentlichen Dienst. Citibank und McDonalds: Arbeitnehmerrechte nein danke
Aus Deutschland wurden zwei krasse Fälle von Auseinandersetzungen um gewerkschaftliche Rechte berichtet. Ein Betriebsrat von der McDonalds-Filiale Wiesbaden, in der 15 Festangestellte, 30 Teilzeitangestellte und 30 ungeschützt Beschäftigte arbeiten, schilderte, wie die Geschäftsleitung von McDonalds versucht, mit allen Mitteln zu verhindern, dass in den McDonalds-Filialen Betriebsräte gebildet werden. So wird den Filialleitern Extrageld gezahlt, wenn es ihnen gelingt, ihre Mitarbeiter davon abzuhalten, Betriebsräte zu bilden. McDonalds versteht sich als amerikanischerKonzern, für den das deutsche Betriebratsgesetz nicht gilt und der die Mitbestimmung der Betriebsräte etwa beim Aufstellen der Dienstpläne aushebeln möchte. Der jederzeit verfügbare, rechtlose Angestellte ist das Ziel. So sehen die Arbeitsbedingungen generell in der Systemgastronomie (Burger King, etc.) aus - nicht nur bei McDonalds.
Schwerpunkte der Debatte auf der Versammlung waren die Lage der Erwerbslosen, der Kampf gegen die verschiedenen Formen der ungeschützten Beschäftigung sowie Inhalt und Status der EU-Grundrechtecharta. DieCharta wird uns weiter beschäftigen, weil in Nizza die Frage offen geblieben ist, ob sie in das Vertragswerk der EU aufgenommen werden soll. Die Frage soll jetzt definitiv in vier Jahren entschieden werden; dann soll es eine neue Regierungskonferenz geben, die auch über eine mögliche Verfassung für die EU zu entscheiden hat. Die Bundesregierung strebt an, daß die Charta zur Präambel einer solchen Verfassung wird.
Gegen Schluss der Erwerbslosenversammlung in Paris wurde ein Delegiertenmodell verabschiedet, dass die Kontinuität für die Weiterarbeit der Europäischen Märsche im nächsten Jahr 2001 gewährleisten soll und um die Kampagne für die sozialen Rechte und das Exstenzminimum weiterführen zu können.
Willi Bartels (Europäische Märsche Hamburg)
(Zwischenüberschriften: Gitti Götz) |
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