Beitrag zur Erwerbslosenversammlung in Paris, Dezember 2000

Um ein Bild über die Menschen abzugeben, die in den Niederlanden in der informellen Ökonomie arbeiten, sind einige Bemerkungen über den niederländischen Arbeitsmarkt erforderlich.

Ein Aspekt des Arbeitsmarkts in den Niederlanden derzeit ist der große Anteil an Teilzeitbeschäftigten. Etwa 40% von 6 Millionen Erwerbstätigen arbeiten Teilzeit. Dadurch unterscheidet sich der niederländische Arbeitsmarkt von dem in anderen europäischen Ländern, weil es den höchsten Anteil an Teilzeitbeschäftigten hat.

Einer der Faktoren, der zu dieser Veränderung geführt haben, liegt im Anstieg des Frauenanteils an der Erwerbstätigkeit. Der größere Teil der Teilzeitjobs hat sich aus einer Aufteilung der insgesamte verfügbaren Erwerbsarbeit entwickelt. Diese Aufteilung fand unter Bedingungen statt, die von den Unternehmern diktiert wurden. Das bedeutet, daß der Übergang in die Teilzeit für diejenigen, die ihre Arbeitszeit reduzierten, mit einer entsprechenden Lohneinbuße verbunden war. Gleichzeitig war damit ein erheblicher Anstieg der Zahl der Erwerbstätigen mit geringfügigem Einkommen verbunden.

Homepage

Bundeskoordination

Übersicht/Archiv

Chronologie

Die Entwicklung der Euromärsche

Ein anderer Aspekt des Arbeitsmarkts in den Niederlanden ist, daß Arbeitsverträge befristet sind. Unbefristete Beschäftigungsverhältnisse verschwinden immer mehr. Diese beiden Faktoren, der Anstieg der Teilzeitarbeit und die befristeten Beschäftigungsverhältnisse begünstigen die Unternehmer, die die verfügbare Arbeitskraft dann und für den Zeitraum einstellen, wie sie es brauchen. Diese sog. Flexibilisierung des Arbeitsmarkts hat das Leben der Menschen, die in ihrer Existenz von einem Unternehmer abhängen, wieder unsicher gemacht.

Die Bedingungen, unter denen man in den Niederlanden eine Arbeit annimmt, sind im sog. Collectieve Arbeids Overeenkomsten (CAO), dem Kollektiven Arbeitsabkommen (Tarifvertragsrecht) festgehalten.

Die genannten Aspekte des niederländischen Arbeitsmarkts sind relevant für den informallen Arbeitsmarkt, der sich unterhalb des offiziellen Arbeitsmarkts als ernstzunehmende Größe der niederländischen Wirtschaft entwickelt hat. Von prekärer Beschäftigung reden wir, wenn es keinen schriftlichen Arbeitsvertrag gibt oder Unternehmer wie Beschäftigte das Tarifvertragsrecht umgehen. Teils, weil es solche Arbeitsverträge nicht gibt (z.B. im Drogenhandel), teils weil es beiden Seiten entgegenkommt, das Tarifvertragsrecht zu umgehen (z.B. in der ???horeca???).

Der informelle Arbeitsmarkt beschäftigt Menschen, die auch auf dem formellen Arbeitsmarkt sind. Z.B. Menschen, die teils offiziell, teils inoffiziell, häufig für denselben Unternehmer arbeiten. Eine andere Gruppe von Beschäftigten auf dem informellen Arbeitsmarkt stellen die Menschen, die eine zu niedrige Sozialleistung erhalten. Auch in den Niederlanden bieten die Sozialleistungen meistens zum Leben zu wenig und zum Sterben zuviel.

Der informelle Arbeitsmarkt bietet auch Arbeitern ohne Papiere eine Möglichkeit zu überleben. Weil es informelle Arbeit ist, gibt es keine Zahlen oder Statistiken über die Anzahl der Menschen, die ihr Auskommen in der informellen Wirtschaft finden. Sicherlich sind mehrere hunderttausend Menschen, wahrscheinlich über eine Million davon betroffen. Handfeste Interessen sind dafür verwantwortlich, daß die Schätzungen immer zu niedrig liegen, und in der Debatte über die Wirtschaftspolitik spielt der informelle Arbeitsmarkt eine untergeordnete Rolle. Maloche in der Schwitzbude ist nicht wirklich eine attarktive Angelegenheit. Die reduzierte Aufmerksamkeit, die der informellen Seite der Wirtschaft zukommt, steht im Widerspruch zur Bedeutung der informellen Arbeit für die formelle Wirtschaft. Ohne die informelle Arbeit in der Reinigungsbranche und die Fron in den Garküchen ohne anständige Belüftung gäbe es keine Tourismusindustrie und ohne die monotone und anstrengende Arbeit auf dem Feld und in den Gewächshäusern würden in Tokio keine Tulpen verkauft.

Die meiste dieser Arbeit hat mit Qualifikationen zu tun, die der traditionellen Hausarbeit zugeordnet werden, also mit Tätigkeiten rund um den Haushalt: Bauarbeiten, Aufzucht von Obst und Gemüse, ???horeca???, Sexindustrie, Einzelhandel und Konfektion. Daß die niederländische Gesellschaft den Tellerwäschern so wenig Aufmerksamkeit widmet, hängt auch damit zusammen, daß die Arbeiten in der informellen Ökonomie die Vorstellungskraft nicht sehr beflügeln. In der Mehrzahl stoßen sie in der öffentlichen Meinung in den Niederlanden auf Ignoranz und Verachtung. Obgleich informelle Arbeit in der Öffentlichkeit eine untergeordnete Rolle spielt, wird sie dargestellt als etwas, was die formelle Arbeit und die rechtlich fixierten Arbeitsbedingungen untergräbt. Sie wird auch als ein isoliertes Problem in einer Schmuddelecke der Gesellschaft betrachtet, das es nicht geben sollte. Demgemäß gelten die Beschäftigten als Betrüger, Kriminelle und Illegale. Die Regierungspolitik unternimmt in aller Regel nichts, um eine wirksame Kontrolle auszuüben. In einigen Branchen kombiniert sich Repression mit rechtlichen Schritten, z.B. im Fall der Prostitution. Ein früher bestehendes Verbot der Arbeit in Bordellen wurde aufgehoben, die Arbeitsverhältnisse dort reguliert. Das Ergebnis war, daß ein Teil der Prostituierten jetzt Steuern zahlt, ein andere aber in die Privatsphäre abgetaucht ist. Vor zehn Jahren wurden Schwitzbuden im Textilbereich massiv und wirksam verfolgt. Sie wichen in andere Regionen Europas aus oder kehren in der versteckten Form der Heimarbeit zurück.

Die Löhne in der informellen Wirtschaft basieren auf einem Stundenlohn, der doppelt so hoch wie der in der formellen Wirtschaft liegt. Man kann sagen, Beschäftigte und Unternehmer teilen sich den Gewinn, der daraus entsteht, daß keine Steuern und Sozialabgaben bezahlt werden. Die Arbeitsbeziehungen in der informellen Wirtschaft befinden sich in einem juristischen Vakuum, es herrschen die Gesetze des Dschungels. Massive Ausbeutung der informell Beschäftigten kann den Unternehmern ein Vermögen einbringen. Andere sind dadurch in der Lage, ihr Mindesteinkommen zu verdoppeln oder verdreifachen. Die Merheit entkommt der Armut, die mit einem Mindesteinkommen einhergeht.
Aber der Preis ist hoch: Gefängnisstrafen für Drogenhandel, Gesundheitsprobleme, Demütigungen, Monotonie, Schwerarbeit und schmutzige Arbeit.

Informelle Beschäftigte in den Branchen, in denen es Tarifverträge gibt, haben dieselben Rechte wie ihre Kollegen in der formellen Wirtschaft. In Theorie können sie fordern, daß die Unternehmer sich an diese Regeln halten. Im Konfliktfall können sie vor Gericht gehen. In der Praxis ist dies selten der Fall. Menschen mit einem Mindesteinkommen oder ohne Papiere haben gute Gründe, nicht an die Öffentlichkeit zu gehen. Ihre Angst vor den Behörden gründet sich auf die ihnen angedrohte Anklage wegen Betrug, wenn es sich um LeistungsbezieherInnen handelt, oder Abschiebung, wenn es Menschen ohne gültige Papiere betrifft. Gleichzeitig sind die Arbeitsverhältnisse im informellen Sektor zu kurzfristig und zu raschen Änderungen unterworfen, um einen Rechtsstreit beginnen zu können, der sich über Monate wenn nicht Jahre hinstrecken kann. Rechtsbeistand ist für Menschen mit einem Mindesteinkommen oder ohne Papiere fast oder ganz kostenlos.

Alle genannten Möglichkeiten, sich Recht zu verschaffen, sind mehr oder weniger eine Farce. Ansprüche können geltend gemacht werden hinsichtlich des Lohns (der immer niedrig ist), die Zeit und die Dauer des Arbeitsverhältnisses (das meist kurz ist). Im Ergebnis kommt eine Summe Geld dabei heraus, das den Aufwand nicht lohnt, zumal man sich kaum auf Geschriebens stützen kann.

Die Arbeitsbeziehungen im langsam aber stetig wachsenden informellen Sektor sind geprägt von einem Rechtsvakuum. In einem Teil der niederländischen Gesellschaft sind arbeitende Menschen direkt und persönlich von anderen abhängig und nicht in der Lage, auch nur einen Bruchteil ihrer Rechte durchzusetzen. Die Verhältnisse verschlechtern sich und dies geht einher mit einer geringen Achtung für die eher abstrakten und unpersönlichen Beziehungen, die die gegenwärtige suburbane Gesellschaft zusammenhalten. Die Reaktion der Regierung ist hochgradig symbolisch , gleichzeitig ohnmächtig und deshalb zum Scheitern verurteilt. Die Kombination von Repression und Regulation ist keine geeignete Antwort darauf. Die traditionellen Pfade, auf denen die Gewerkschaften als Mitverantwortliche für diese Entwicklung versuchen, die Interessen der Beschäftigten zu vertreten, werden deren Situation auch nicht gerecht.

Neue Wege sind gefragt und sicherlich können die Arbeitsbedingungen im informellen Sektor verbessert werden. Solche Verbesserungen werden wahrscheinlich nicht von den Gewerkschaften sondern von Strukturen außerhalb von ihnen angestoßen werden. Die Elektronik stellt da neue Mittel zur Verfügung. Es scheint, daß Jobbers in ???horeca??? durch Europa fahren und alles, was sie haben ist eine Email-Adresse als der stabilste Punkt in ihrem Leben. Das macht es möglich, sie zu kontaktieren und mit Informationen über den Arbeitsmarkt und andere für sie wertvolle Dinge zu beliefern. Ein anderer Punkt ist, daß die Interessenvertretung der Beschäftigten im informellen Sektor informelle Aktionsformen verlangt.

Eine letzte Bemerkung betrifft die Politik der Institutionen in Bezug auf die informelle Wirtschaft. Inspektoren, Fachorganisationen, Lokalpolitiker etc. können positiv auf die Lage im informellen Sektor einwirken. Sie können mehr für die Beschäftigten tun, statt die Unternehmerseite zu stützen, wie es derzeit hauptsächlich tun.

Fuss

 

AG Prekarität

Erwerbslosenversammlung

 

 

Seitenanfang

Homepage

Bundeskoordination

 

E-Mail Webmasterin