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Formen erzwungener Arbeit in Europa

Ein neues Sozialhilfegesetz in den Niederlanden stellt dort das bisherige Sozialsystem auf den Kopf

Ein Beitrag von Bijstandsbond zum Workshop der Euromärsche auf der ENA, 9.–14.August, Freiburg/Br.

“Formen erzwungener Arbeit in Europa” (S11 b)

Wir haben gelesen, dass es in Deutschland neue Ansätze gibt für subventionierte Arbeit, wobei Arbeitsplätze für Arbeitslose geschaffen werden, bei denen die Arbeit zusätzlich sein muss; sie werden finanziert aus EU-Geldern.

In den Niederlanden haben wir bis vor kurzem auch ein solches System gehabt. Es gab sogenannte “Einstrom-Ausstrom-Jobs”, wobei die Arbeit auch zusätzlich sein musste. Vielleicht fünfzigtausend Arbeitslose sind auf diese Weise in Arbeit gekommen. Oft war es Arbeit, die vorher von ‘regulären’ Arbeitnehmer gemacht wurde, für einen normalen Lohn.

Vor einigen Jahren, unter der Regierung Balkenende, hat man diese Arbeitsplätze jedoch größtenteils wieder abgeschafft. Neben den Kosten für diese Arbeitsplätze wurden große Summen für die Wiedereingliederung von Arbeitslosen ausgegeben, zum Beispiel für Schulung, Begleitung, Ermittlung, Work First Projekte, usw. Die Arbeitsvermittlung war bei uns privatisiert, dass heisst kommerzielle Wiedereingliederungsbetriebe bekamen Geld vom Staat, um Arbeitslose zu begleiten. Nach dem Ende der Regierung Balkenende (eine Koalition von Liberalen und Christ-Demokraten) haben die Gemeinden die “Einstrom-Ausstrom”-Jobs teilweise übernommen.

Jetzt haben wir die Regierung Rutte (auch eine Koalition aus Liberalen und Christ-Demokraten), die sich auf die PVV von Geert Wilders stützt. Diese Regierung ist voriges Jahr angetreten. Sie will eine Ausgabenkürzung von 18 Mrd. Euro innerhalb von drei Jahren durchsetzen. Davon sollen 2 Mrd. aus der Sozialhilfe, aus dem Gesetz über junge Behinderte und aus dem Gesetz über soziale Arbeitsbeschaffung aufgebracht werden. (Die Gesamtausgaben des Staates beliefen sich in 2010 auf 254 Mrd. Euro.)

Dabei gibt es die folgende Entwicklung. Es gibt grosse Ausgabenkürzungen bei der Wiedereingliederung von Arbeitslosen, nicht nur beim Staat, sondern auch bei den Städten und Gemeinden. Alle subventionierte Arbeit wird wieder abgeschafft. Wiedereingliederungsmaßnahmen gibt es nur noch für Arbeitslose mit großen Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Auch die ganze Maschinerie für die soziale Aktivierung durch unbezahlte Arbeit von Sozialhilfeempfängern, die keine Chancen haben auf dem Arbeitsmarkt, wird abgeschafft.

Statt dessen hat man ein neues System entworfen. In einem ersten Schritt macht man ein neues Sozialhilfegesetz. Dabei werden das heutige Sozialhilfegesetz, das Gesetz über junge Behinderte (eine Volksversicherung) und das Gesetz über die Arbeitsbedingungen von geistig Behinderten zusammengefasst. Es gibt dann nur noch eine Sozialhilferegelung für Behinderte und Langzeitarbeitslose.

Daneben haben wir zwar noch eine Behindertenversicherung für Arbeitnehmer. Aber in deren Genuss kommt man nur mit einer Schwerbehinderung oder einer chronischen Krankheit.

Und es gibt eine Arbeitslosenversicherung für Arbeitnehmer, die aber nur einen kurzen Zeitraum abdeckt. Wer aber nicht versichert war, als er arbeitsunfähig wurde, kommt in die neue Sozialhilfe. (Das gilt auch für die wachsende Gruppe von flexiblen Arbeitskräften, die selbständig sind.)

Mit der neuen Regelung, die ab dem 1. Januar 2013 gilt, wird sodann Folgendes eingeführt:

Bis jetzt konnten Arbeitgeber Subventionen bekommen, wenn sie teilweise Behinderte oder Langzeitarbeitslose einstellten. Daneben gab es die subventionierten zusätzlichen Arbeitsplätze, organisiert von Behörden und Gemeinde. Diese Arbeit durfte keine reguläre Arbeit verdrängen. Und dann gab es noch Wiedereingliederungsgeld für kommerzielle Arbeitsvermittlungsbetriebe.

Das alles wird abgeschafft, auch die soziale Aktivierung von Langzeitarbeitslosen.

Ein neues System wird eingeführt, bei dem die Arbeit, die Arbeitslose verrichten, nicht mehr zusätzlich sein muss. Sie müssen bei einem kommerziellen Betrieb arbeiten und dieselbe Arbeit verrichten wie normale, nicht behinderte, Arbeitnehmer.

Das neue System heißt ‘Lohn-Dispensations-System’. Was heisst das?

Wir haben einen gesetzlichen Mindestlohn. Das ganze System der sozialen Sicherheit bei uns basiert auf diesem Mindestlohn. Arbeitgeber dürfen niemanden unterhalb des gesetzlichen Mindestlohns bezahlen.

Aber jetzt bekommen die Arbeitgeber Dispens. Es wird ihnen freigestellt, ob sie den gesetzlichen Mindestlohn oder den Tariflohn bezahlen, wenn sie Behinderte einstellen. Sie dürfen Behinderten also weniger als den gesetzlichen Mindestlohn oder den Tariflohn bezahlen.

Aber wieviel weniger? Dafür entwirft das neue Gesetz ein kompliziertes Mess- und Beurteilungssystem.

Zuerst wird festgestellt, ob man zur Zielgruppe gehört. Dabei wird kein Unterschied mehr gemacht zwischen Langzeitarbeitslosen und teilweise Behinderten. Langzeitarbeitslose gelten jetzt auch als “teilweise behindert”, weil sie bestimmte Arbeitsfähigkeiten verloren haben. Dazu wird man von einem Arzt beurteilt. Er untersucht, ob man eine geistige oder körperliche Behinderungen hat.

Ist dies der Fall, tritt Phase 2 in Kraft. Man wird angestellt bei einem Arbeitgeber. Dort arbeitet man drei Monate, wobei der Arbeitgeber keinen Lohn zu zahlen braucht. Man bekommt in diesen drei Monaten Sozialhilfe.

Während der drei Monate wird der “Lohnwert” der teilweise Behinderten festgestellt. Zusammen mit dem Arbeitgeber nimmt ein Beamter der Gemeinde (ein Spezialist auf dem Gebiet der Arbeit) Messungen vor. Dass funktioniert so. Zuerst macht er ein Leistungsbeschreibung von der Arbeit des teilweise Behinderten, er definiert eine bestimmte Leistung, die dieser erbringen muss. Dann berechnet er, wie groß die durchschnittliche Arbeitsproduktivität der anderen Arbeitskräfte ist, die dieselbe Aufgabe erfüllen. Das macht er auf Grund von 20 oder 30 Variablen. Dann misst er die Arbeitsproduktivität des teilweise Behinderten. Für jede Variable kann er einen Wert eintragen.

Die Variablen enthalten nicht nur Kriterien, die sich auf die Arbeit selbst beziehen – also wie gut der Arbeitnehmer seine Aufgabe erledigt –, sondern auch darauf, wie er sich am Arbeitsplatz benimmt. Zum Beispiel wird erfasst, ob der Betreffende leicht soziale Kontakte macht, wie sieht der Kontakt zu den Kollegen aus, wie schnell kann er einen Auftrag ausführen, hat er Kritik, meldet er seinem Chef Schwierigkeiten, usw.

Jede Variable bekommt einen Wert zugeteilt. Diese Werte werden verglichen mit den durchschnittlichen Werten bei der Erfüllung dieser Aufgabe. Dabei kommt ein Prozentsatz heraus. Das ist der Prozentsatz an Leistung, den der teilweise Behinderte für seinen Arbeitgeber erbringt.

Nun tritt Phase drei in Kraft. Man hat dem teilweise Behinderten bei einem Arbeitgeber einen ‘Arbeitswert’ von zum Beispiel 40% zugeteilt – nun braucht dieser Arbeitgeber nur noch 40% des gesetzliches Mindestlohns bei einer vollen Arbeitswoche – also für 36 Stunden Arbeit – zu bezahlen.) Nun liegt der Arbeitnehmer zu stark unter dem sozialen Minimum.

Hier kommt das neue Sozialhilfegesetz ins Spiel. Der teilweise behinderte Arbeitnehmer bekommt eine Aufstockung aus dem neuen Sozialhilfegesetz, so dass er etwas mehr als das soziale Minimum erhält. Dafür werden wiederum komplizierte Berechnungen vorgenommen.

Einem Alleinstehenden stehen aus der Sozialhilfe im Prinzip 70% des gesetzliches Mindestlohns zu, ein Ehepaar bekommt 100% des gesetzliches Mindestlohn. 70% des gesetzlichen Mindestlohns sind ungefähr 850 Euro netto. Davon müssen Miete, Gas und Elektrizität bezahlt werden. Die Mieten für Sozialwohnungen betragen in Amsterdam zwischen 300 und 550 Euro im Monat. Außerdem müssen von den 850 Euro monatlich mindestens 120 Euro als Beitrag für die Krankenkasse bezahlt werden. Die kann man teilweise von der Steuer absetzen.

Im neuen System bekommt der teilweise Behinderte, der arbeitet, also etwas mehr als 70% des gesetzlichen Mindestlohns (was das soziale Minimum ist), sagen wir etwa 80%. Im Vergleich zur Sozialhilfe lohnt es sich also, zur Arbeit zu gehen. Aber man verdient nie den vollständigen gesetzlichen Mindestlohn.

Nicht alle teilweise Behinderten können 36 Stunden arbeiten. Aber auch sie können auch in dieses System aufgenommen werden.

Das ist ein Jagdsystem. Denn jedes Jahr wird die Arbeitsproduktivität des teilweise Behinderten aufs Neue festgestellt.

Wenn der teilweise Behinderte seine Arbeitsproduktivität nun zu steigern weiss, weil er härter arbeitet oder die Behinderungen eine geringere Rolle spielen, kann er nach einem Jahr eine größere Arbeitsproduktivität vorweisen. Dann geht die Berechnung so:

Wenn jemand, der zuerst eine Arbeitsproduktivität von 40% des gesetzlichen Mindestlohns hatte, jetzt 50% erreicht, dann muss der Arbeitgeber ihm 50% bezahlen. Und der teilweise Behinderte bekommt etwas mehr Sozialhilfe. bekam er zuerst insgesamt 80% vom gesetzlichen Mindestlohn, bekommt er nach einem Jahr vielleicht 85% oder 90%. Aber er erreicht nie die Höhe des gesetzlichen Mindestlohns.

Ich fürchte, dass viele Arbeitslose dieses System akzeptieren. Es bietet etwas mehr als die Sozialhilfe, und man kann sich verbessern.

Jetzt zum Abbau der subventionierten Jobs für Arbeitslose. Für die Arbeitslosen bedeuteten diese Jobs gegenüber der Sozialhilfe eine grosse Verbesserung. Es waren normale Jobs mit einem normalen Arbeitsvertrag für etwas mehr als den gesetzlichen Mindestlohn. Als die Regierung ankündigte, die subventionierten Jobs abbauen zu wollen, sind die Arbeitslosen, die solche Jobs hatten, auf die Strasse gegangen, um sie zu behalten. In Groningen gab es zum Beispiel eine Demonstration von 1500 Leuten.

Aber die Aktionen blieben lokal und isoliert, weil die Gewerkschaften sie nicht unterstützten. Die Gewerkschaften sagen: Subventionierte Jobs sind nicht gut, die Leute sollen in ein reguläres Beschäftigungsverhältnis kommen, deshalb sind wir für den Abbau subventionierter Jobs. Aber die Arbeitslosen, die auf die Straße gehen für den Erhalt der subventionierten Jobs, wollen nicht zurück in die Sozialhilfe. Denn da die Ausgabenkürzungen weiter gehen, bekommen sie keine andere Arbeit in der Kommune. Das gelingt nur einem Teil. Der Rest fällt zurück in die Sozialhilfe oder … er geht in das neue System über. Und ich glaube, viele werden das neue System wählen.

Die Gewerkschaften sind auch gegen das System des Lohndispenses, aber ob sie es wirklich verhindern können, weiß ich nicht. Ich denke eher nicht, sogar die Grünen haben im Parlament schon gesagt, dass sie das System des Lohndispenses unterstützen. Die wenigen Aktionen, die die Gewerkschaften gegen das neue System durchführen, richten sich nicht gegen die Behandlung der Arbeitslosen und Sozialhilfebeziehenden. Vielmehr versuchen sie, mehr Geld herauszuschlagen, außerdem wollen sie das Gesetz für junge Behinderte und die Arbeitsbestimmungen für geistig Behinderte beibehalten. Das machen sie, weil Sozialhilfebeziehende nicht in Gewerkschaften organisiert sind, teilweise Behinderte hingegen eher. Sie behaupten auch, für die Rechte von Arbeitslosen ließe sich weniger gesellschaftliche Unterstützung mobilisieren als für Behinderte. Das sagen sie aber nicht öffentlich.

In diesem Jahr werden Modellversuche mit dem neuen System an kleinen Gruppen in 32 Gemeinden durchgeführt, um auszuprobieren, wie sie wirken. Aber es gibt wichtige Leute, die sagen, das neue System muss so schnell wie möglich, noch im nächsten Jahr, vollständig eingeführt werden. Wie es jetzt aussieht, wird das neue Sozialhilfegesetz am 1.Januar 2013 eingeführt.

Überflüssig zu sagen, dass das neue System mit idealistischen Argumente unterfüttert wird. “Wir lassen die Leute nicht im Stich, Arbeit ist das beste für jeden, man kann sich entfalten, die Chancen von teilweise Behinderten und Langzeitarbeitslosen, einen Job zu finden, werden größer.” Usw.

Ein Letztes: Das System ist auch mit einem Subventionssystem kombinierbar. Dann wird der Arbeitswert eines teilweise Behinderten festgestellt, und damit der Betrag, den der Arbeitgeber selber zahlen muss. Er wird aufgefüllt durch eine Subvention, die an den Arbeitgeber, und nicht an die Sozialhilfe gezahlt wird.

Piet van der Lende, Bijstandsbond