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Zwangsarbeit in Europa

Vortrag von Piet van der Lende im Euromarsch-Workshop am 12.08.2011 bei der Europäischen Netzwerkakademie in Freiburg.

Seit einigen Jahren treffen die Regierungen der europäischen Länder Maßnahmen um, wie man sagt, Arbeitslosen zu helfen wieder ein Job zu finden. Dabei müssen Arbeitslose unbezahlte Arbeit verrichten oder stark unterbezahlte Arbeit, damit sie im “Arbeitsrythmus” bleiben, die Disziplin nicht verlernen und gesellschaftlich nützliche Arbeit verrichten, die sonst nicht gemacht wird. Manchmal müssen Arbeitslose viele Jahre in dieser Situation leben. Sie finden noch immer keine reguläre Arbeit und bleiben leben in Armut.
Arbeitslosengruppen in Europa sprechen in einer solchen Situation von ‘Zwangsarbeit’, weil Arbeitslose gezwungen werden, diese Arbeiten zu verrichten. Wenn sie es nicht machen, empfangen sie keine Arbeitslosenhilfe oder Sozialhilfe.

Was ist Zwangsarbeit?

Viele haben den Arbeitslosengruppen gesagt: Das ist kein Zwangsarbeit, dabei muss man denken an Diktaturen, wo Menschen mit körperlicher Gewalt und Gefängnisstrafen gezwungen werden, schwere Arbeit zu verrichten unter schlechten Umständen. Das, was heute geschieht, Zwangsarbeit zu nennen, ist übertrieben. Aber dieses Argument geht an der Tatsache vorbei, dass gemessen an den Maßstäben von Menschenrechtskonventionen viele Maßnahmen von Regierungen in Europa sehr wohl als Zwangsarbeit oder verbotene Arbeitspflicht qualifiziert werden können.

Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) hat in 1930 in Genf definiert, was sie unter Zwangsarbeit und Pflichtarbeit versteht. Nämlich ‘jede Art von Arbeit oder Dienstleistung, die von einer Person unter Androhung irgendeiner Strafe verlangt wird, für die sie sich nicht freiwillig zur Verfügung gestellt hat’. Dann werden Formen von Arbeit erwähnt, die nicht als Zwangs- oder Pflichtarbeit betrachtet werden können, u.a. der Pflicht zum Militärdienst. Auch zu ‘kleineren Gemeindearbeiten’ kann man verpflichtet werden, wenn sie zu den ‘üblichen Bürgerpflichten der Mitglieder der Gemeinschaft’ gerechnet werden können.
Das Verbot der Zwangsarbeit hat die ILO in einer Konvention von 1957 ausgesprochen. Es ist verboten, Pflichtarbeit einzuführen, wenn sie als Mittel zur Arbeitsdisziplin und als Methode dienen soll, Arbeitskräfte für die ökonomische Entwicklung zu mobilisieren.

Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) bzw. Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten enthält einen Katalog von Grundrechten und Menschenrechten (Konvention Nr. 005 des Europarats). Über ihre Umsetzung wacht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Diese Konvention ist eigentlich eine Auswirkung der Erklärung der Menschenrechte der UN.
Die Bereitschaft zur Unterzeichnung und Ratifikation der EMRK hat sich im Laufe der Zeit zu einer festen Beitrittsbedingung für Staaten entwickelt, die dem Europarat angehören möchten. Daher haben alle Mitgliedstaaten des Europarats die Konvention unterzeichnet und ihr innerstaatliche Geltung verschafft.
Art. 4 dieser Konvention verbietet es, eine Person in Sklaverei oder Leibeigenschaft zu halten (Abs. 1). Weiterhin verbietet dieser Artikel Zwangs- oder Pflichtarbeit (Abs. 2). Nicht als Zwangs- oder Pflichtarbeit zählen nach diesem Artikel allerdings Pflichtarbeiten im Strafvollzug, im Wehr- und Wehrersatzdienst oder in Katastrophenfällen.

In den Niederlanden hat der Bijstandsbond einen Prozess geführt, wobei die Internationalen Abkommen über Zwangsarbeit und Pflichtarbeit eine Rolle spielten. Dieser Prozess gelangte bis zum Obersten Gerichtshof der Niederlande und wurde jetzt dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg vorgelegt.
Der Oberste Richter der Niederlande hat (zum ersten Mal!) Kriterien formuliert, was Zwangsarbeit bedeutet und was dem Artikel 4 der Europäischen Menschenrechtskonvention widerspricht. Die Kriterien sind:

Die Art, Lage und Dauer der Arbeitszeiten der angebotenen Arbeit im Verhältnis zu den Möglichkeiten, Arbeitserfahrungen, zur Ausbildung und Familiensituation des Arbeitslosen.
Die Dauer der Arbeitslosigkeit.
Ob und auf welche Weise die angebotene Arbeit dazu beitragen kann, reguläre Arbeit abzulehnen.
Wie schwer die Sanktionen sind, wenn man der angebotenen Arbeit nicht zustimmt. 

Wichtig ist also, dass es eine individuelle Beurteilung geben muss, die in Bezug steht zu den Möglichkeiten und zur persönlichen Situation der Arbeitslosen. Dabei müssen seine Chancen auf eine reguläre Arbeit durch die angebotene Arbeit grösser werden. Allgemeine Projekte, die Arbeitslose unter Druck setzen (z.B. durch Sanktionen), bestimmte Arbeit zu verrichten, ohne Rücksicht auf ihre persönliche Situation und auf die Besserung ihrer Chancen, eine reguläre Arbeit zu finden, sind Zwangsarbeit.

Das Führen von Gerichtsprozessen im Kapitalismus hat so seine Nachteile. Der Richter folgt den Gesetzen, die es im Kapitalismus gibt. Und manchmal sucht er einen Kompromiss. Wenn man einen Prozess verliert, steht man vielleicht schwächer da als vorher. Aber die internationalen Menschenrechtsabkommen bieten auch Möglichkeiten. Zum Beispiel hat der Richter in den Niederlanden wohl gesagt, dass Work-First-Projekte möglich sind und dass sie keine Zwangsarbeit darstellen.
Aber auch dann sagt er deutlich, dass diese Arbeit zeitlich eng beschränkt sein muss und dass bewiesen werden muss, dass sie dazu beiträgt, die Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern, zum Beispiel weil man etwas lernt und eine Weiterbildung bekommt. Wenn dies nicht der Fall ist, handelt es sich um Zwangsarbeit.

So können solche Prozesse doch helfen, die Meinung der Gewerkschaften und der Euromärsche zur Geltung zu verhelfen. Diese Prozesse generieren viel Publizität, und dass gibt uns auch die Möglichkeit, in der Diskussion unseren Standpunkt, begleitet von Aktionen, deutlich zu machen.

Die Standpunkte der Euromärsche.

In Bezug auf Beschäftigung und soziale Sicherheit vertreten wir folgende Standpunkte:

* Wir bekräftigen die Notwendigkeit, die Arbeitslosigkeit zu beseitigen durch massenhafte Schaffung von gesellschaftlich nützlichen und ökologisch vertretbaren Arbeitsplätzen sowie durch allgemeine Umverteilung der Arbeit mittels Arbeitszeitverkürzung bei freier Berufswahl.

* WIR BEKRÄFTIGEN DIE NOTWENDIGKEIT, BEIM VERLUST DES ARBEITSPLATZES EIN ARBEITSLOSENGELD, WENIGSTENS IN DER HÖHE DES MINDESTLOHNS, UND EINE LEBENSLANGE WEITERQUALIFIZIERUNG ZU ERHALTEN.

* Als unmittelbare Massnahme, um Armut und Verelendung entgegen zu treten, fordern wir ein garantiertes Mindesteinkommen, ohne Auflagen und Sanktionen, ZAHLBAR MIT BEGINN DES EINTRITTS IN DEN ARBEITSMARKT, das die Armutsgrenze nicht unterschreiten darf.

* Das sind NotMaßnahmen, um das Überleben zu sichern. Unser Ziel bleibt aber die Angleichung nach oben, das heisst: ein europäisches Mindesteinkommen und ein europäischer Mindestlohn, die allen ein Leben in Würde ermöglichen.

All dies erfordert eine neue Umverteilung des Reichtums, um solche Maßnahmen zu finanzieren, und das bedeutet eine umfassende Umgestaltung der Steuersysteme.

Um dahin zu gelangen, müssen die Initiativen, Gewerkschaften und politischen Parteien einen gemeinsamen Nenner für das Recht auf Arbeit und Einkommen finden, aber auch für andere elementare soziale Rechte wie das Recht auf Wohnen, auf Daseinsvorsorge, auf Ernährung, Gesundheit, kulturelle Teilhabe usw., alles dies darf durch nicht kommerzielle öffentliche Dienste abgedeckt werden.

Die Rolle von Europa in der Aktivierungspolitik

Wohlfahrtsstaaten in Europa sind übergegangen vom Wohlfahrtsstaat zu einer Politik der aktivierenden arbeitsmarktpolitischen Instrumente. Dabei haben Europäische Institutionen, Verträge und Richtlinien eine wichtige Rolle gespielt, obwohl die europäischen Staaten auf dem Gebiet der Arbeitsmarktpolitik und der sozialen Sicherheit formal noch sehr autonom sind und es in verschiedenen Ländern verschiedene Sozialsysteme gibt.

Was sind die neuen Maßnahmen?
In der Aufbauphase der Nachkriegszeit hatte die soziale Sicherheit zwei Funktionen:
* Schutz gegen den Verlust von Einkommen durch Krankheit, Arbeitslosigkeit oder Alter. Arbeitslosigkeit ist keine individuelle Schuld, sie ist die Folge von zu wenig Arbeitsplätzen.
* Gerechtere Verteilung des nationalen Einkommens durch Umverteilung zwischen Menschen, die sehr reich sind, und Menschen, die in Armut leben oder kein Einkommen haben. Es gab Ziele für eine gerechtere Verteilung des Reichtums.
Die Sozialpolitik war relativ autonom gegenüber der Ökonomie. Auf der Grundlage von Gerechtigkeit und Solidarität wurden Ziele für die Entwicklung von sozialer Sicherheit und Arbeitsmarktpolitik entwickelt. In verschiedenen europäischen Ländern führte man den gesetzlichen Mindestlohn ein, und man entwickelte Kontrollinstanzen für die Überwachung gerechter Arbeitsverhältnisse und -bedingungen.

Die Politik des Neoliberalismus

Diese Prinzipen sind mit der Auftritt des Neoliberalismus langsam verschwunden. In den siebziger Jahren begannen in den Vereinigten Staaten und Europa, die Unternehmensprofite zu sinken. Es führt hier zu weit das zu erklären. Doch seitdem beginnen die Politiker über soziale Sicherheit und Arbeitsmarktpolitik anders zu denken. Man sprach von “Fabriken für Sozialhilfe und Arbeitslosengeld”, die Arbeitslosen würden ungerechten Gebrauch von den Regelungen machen und keinen Job suchen wollen; es sei in ihrem Interesse, sie zu aktivieren, weil ein Job das beste ist für ein regelmäßiges und glückliches Leben. Es sollte eine mehr ‘aktivierende’ Politik geben, um Arbeitslose zu stimulieren, wieder arbeiten zu gehen. Das sei in ihrem Interesse und auch besser für die Ökonomie und Wohlfahrt.
Der wirkliche Hintergrund dieser Maßnahmen war, dass man dadurch Arbeit billiger machen konnte und flexibler und hoffte, wenn man Arbeitslose unter Druck setzt, kann man die Unternehmensprofite wieder steigern. Dabei hat man eine Politik entwickelt, die Arbeitskräfte an die Forderungen der Unternehmer anzupassen, wobei der Schutz gegen Krankheit, Alter und Arbeitslosigkeit in den Hintergrund geriet.
Seither gibt es Arbeitslosigkeit nicht, weil es zu wenig Jobs gibt, sondern weil die Arbeitslosen sich nicht anpassen. Der Arbeitslose ist zu einem Problem geworden. Um die Höhe der Steuern und Beiträge für die Unternehmen zu senken, hat man die Ausgaben für die soziale Sicherheit stark eingeschränkt. Die sozialste Politik, sagen die Liberalen, ist eine Politik, die die Chancen der Arbeitslosen und der Arbeitskräfte,  auf dem Arbeitsmarkt einen Job zu finden, verbessern. Zentrales Konzept in dieser Politik ist die Beschäftigungsfähigkeit (employability): lebenslang lernen, umschulen, neue Kenntnisse erwerben und Möglichkeiten nutzen, in Konkurrenz zu Anderen, um auf einem flexiblen Arbeitsmarkt, wo immer neue Fähigkeiten gefragt sind,  Chancen zu behalten. Für Menschen, die nicht arbeiten können, führt diese Politik in Armut und unterbezahlte Arbeit unter schlechten Bedingungen, und sogar zu Zwangsarbeit.
Das Konzept der Beschäftigungsfähigkeit und des flexiblen Arbeitsmarkts, um Arbeit billiger zu machen, nimmt in der europäischen Politik einen zentralen Raum ein. Dadurch wird es möglich, dass die europäischen Länder gegenüber anderen Wirtschaftsblöcken konkurrenzfähig werden. Nach dem Vertrag von Amsterdam (1997) und dem EU-Gipfel in Luxemburg wurde der flexible Arbeitsmarkt und die Beschäftigungsfähigkeit ein zentrales Konzept in der Lissabonstrategie. Im Juni 2010 wurde festgestellt, dass diese Strategie gescheitert ist. Trotzdem ist das Konzept auch ein zentraler Punkt in der neue europäischen Agenda 2020.

Beispiele für Zwangsarbeit:

Niederlande und Ungarn. Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.

In den Niederlanden muss man zuerst Leistung zeigen, bevor man eine Gegenleistung von der Stadt oder Gemeinde erwarten kann. Das Ganze nennt sich in den Niederlanden “soziale Aktivierung”. In der ersten Zeit ging es darum, Menschen, die lange nicht gearbeitet haben, zu helfen wieder in den Arbeitsmarkt zu kommen. Indem Menschen mit anderen Menschen ins Gespräch kommen, hofft man, dass aus ihnen wieder arbeitende Menschen werden.
Nach einiger Zeit war dass nicht mehr das Ziel: auch Arbeitslose und Behinderte, die nie mehr bezahlte Arbeit verrichten werden, sollten ‘sozial aktiviert’ werden. Am 1. Januar 2013 wird ein neues Sozialhilfegesetz eingeführt, das das Prinzip der ‘Gegenseitigkeit´, oder ‘Reziprozität’ einführt: Wer keine Gegenleistung erbringen will durch freiwillige Arbeit oder soziale Aktivierung, bekommt keine Sozialhilfe.
Das ist das allgemeine Prinzip, aber Ausnahmen sind möglich. Das wird von den Behörden beurteilt. Dieses Prinzip widerspricht den Menschenrechten. (Siehe oben)
Wer zu einem sogenannten Jobcenter in den Niederlanden geht, wird zur Stellenvermittlung geschickt, um dort vielleicht einen Job antreten zu können, der am nächsten Tag schon anfängt. Wer keinen Job gefunden hat, muss Praktika oder FortbildungsMaßnahmen in Trainingszentren durchführen. Die einzigen Menschen, die von der Arbeitspflicht befreit sind, sind entweder krank oder sie betreuen kleine Kinder. Damit soll erreicht werden, dass sich mehr Menschen um Arbeit bemühen. Nur wer in den Niederlanden arbeitet, darf von der Stadt auch Geld verlangen.
Daneben wird ein neues Gesetz eingeführt, die ‘Lohndispensierung’: Nach diesem Gesetz darf man für maximal fünf Jahre auch für weniger als den gesetzlichen Mindestlohn arbeiten. (Siehe den anderen Text).

In Ungarn werden ähnliche Maßnahmen getroffen. Sie sind noch viel radikaler.
Einige hunderttausend Arbeitslosen werden dort im Zukunft für 30% bis 60% des Mindestlohns arbeiten müssen, etwa in großen Staatsprojekten wie dem Bau von Deichen, Kanälen, usw. Zur Organisation und Bewachung dieser Projekte hat die Regierung viele tausende pensionierte Polizisten und Soldaten gerufen. Ihre Pension wird zurück gezogen. Diesen Plan hat das Innenministerium ausgearbeitet, darunter fällt auch die Polizei. Der Plan ist Bestandteil der Konservativen Revolution der Regierung Orbán. Die Arbeitslosen-Brigaden sollen den Menschen wieder Arbeitsdisziplin beibringen und das Prinzip einführen: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Arbeitslose, die dran nicht teilnehmen wollen, bekommen keine Sozialhilfe.
Viele müssen sechs Stunden am Tag schwere körperliche Arbeit verrichten für 100 bis 180 Euro pro Monat. Neue Technologien und Maschinen will man bei diesen Projekte nicht einsetzen. Bei grosse Projekte werden Containerdörfer aufgebaut, wo die Arbeitslosen schlafen können. Auch die Polizisten, die für die Bewachung sorgen, können dazu gezwungen werden.
Orbán sieht dieses Projekt als Vorbild für Europa. Auch diese Maßnahmen widersprechen den Menschenrechten. Sind die Arbeitsbedingungen akzeptabel? Die Jobs bieten keine Perspektive auf eine reguläre Arbeit. Wer und wie beurteilt, wer imstande ist, diese Arbeit zu verrichten? Müssen Arbeitslose mit bestimmten Kenntnissen und Fähigkeiten zu dieser Arbeit gezwungen werden?

Piet van der Lende