Die Beschäftigungspolitik in der Europäischen Union

 

 

Häufig erklärt man uns die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen als notwendige Naturphänomene. So ist es auch mit der Arbeitslosigkeit in der Europäischen Union: Sie wird uns als eine unvermeidliche Nebenwirkung des sog. Strukturwandels erklärt, Strukturwandel von einer Periode des Wirtschaftswunders - das der Nachkriegszeit - zur nächsten, die angeblich vor uns liegt: wo der Markt endlich alle Probleme auf der Erde und in Europa gelöst haben wird, wenn man ihn nur machen läßt. Die Opfer von heute, so sagte schon Helmut Schmidt, sind die Investitionen von morgen und die Arbeitsplätze von übermorgen.

Wir haben die Opfer kennengelernt, aber nicht die Arbeitsplätze. Der Vertrag von Maastricht 1993 hat den Aufbau der Europäischen Union unter den absoluten Vorrang der Wirtschafts- und Währungsunion gestellt. Die berühmten Kriterien von Maastricht - die wirtschaftlichen Beitrittskriterien zur Währungsunion - zwingen die Staaten zu einer Finanzpolitik, die zwei Ziele als absolut vorrangig erklärt: eine eiserne Haushaltsdisziplin und die Inflationsbekämpfung. Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ist nicht zum Kriterium gemacht worden, sie ist stetig angestiegen, über 10 Prozent.

Am Ende des Jahrhunderts ist die Massenarbeitslosigkeit zu einer neuen Plage geworden, gegen die überall in Europa soziale Bewegungen entstanden sind. 1997 sind in Amsterdam mehrere zehntausend Menschen zusammengekommen, um gegen Arbeitslosigkeit, ungeschützte Beschäftigung und Ausgrenzung zu protestieren und die Regierungen aufzufordern, daß sie endlich wirksame beschäftigungspolitische Initiativen ergreifen. Was haben wir dafür bekommen? Ein Beschäftigungskapitel im Vertrag von Amsterdam und einen Sondergipfel in Luxemburg zur Beschäftigungspolitik.

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Die Politik der EU-Kommission

»Aktivierung« der Erwerbslosen

Von Lissabon nach Nizza

Die Politik der EU-Kommission

Wie sieht diese Politik aus? Seit 1998 definiert die EU-Kommission beschäftigungspolitische Leitlinien - formal sind das Empfehlungen an die Mitgliedstaaten, die vom Europäischen Rat aber als gemeinsame Absichtserklärung verabschiedet werden. Die Europäische Kommission spielt unbestreitbar eine Vorreiterrolle in der Definition einer Beschäftigungspolitik, die die Interessen der Wirtschaft bedient - sie ist eine Art Vordenkerin für die Regierungen. Aber selbst auf dem Europagipfel der Unternehmer am 10. Juni in Brüssel, zu dem die EU-Kommission eingeladen war, konnte man feststellen: Es waren nicht die Unternehmer, die der Kommission ihr Diktat aufgedrückt haben, die hat deren Wünsche schon alle vorweggenommen.

Wir haben allzulange vernachlässigt, was auf europäischer Ebene passiert, und haben zugelassen, daß die Unternehmer und die Regierungen wirksame und aktive Apparate aufbauen, ohne daß wir darauf reagieren. Selbst die linken Abgeordneten im Europaparlament haben nicht immer die Texte gelesen, denen sie zugestimmt haben. Unsere belgischen Freunde haben uns gelehrt, die Rolle der EU-Kommission, die als regelrechte europäische Regierung im Hintergrund arbeitet, genauer unter die Lupe zu nehmen, wie sie ihre Empfehlungen in politische Richtlinien gießt, die die Mitgliedstaaten nicht mehr ablehnen können, nachdem sie sie einmal auf dem Rat beschlossen haben.

Mit Hilfe der Analyse der europäischen Politik verstehen wir besser, welche Politik in den einzelnen Ländern gemacht wird, und können uns besser koordinieren. Das gilt umso mehr, als der Aufbau der europäischen Politik an einem Wendepunkt angekommen ist. Ende 2000 gibt es ein Gipfeltreffen in Nizza, das über eine Revision des EU-Vertrags entscheidet, über eine Reform der Institutionen, einen Grundrechtekatalog und die Osterweiterung - aber auch über Kriterien eines neuen Sozialsystems in Europa.

Die europäische Beschäftigungspolitik versteht man am besten, wenn man davon ausgeht, daß sie sich an den Großen Wirtschaftspolitischen Leitlinien zu orientieren hat: Ausbau der Wettbewerbsfähigkeit der EU, vor allem gegenüber den USA; Deregulierung der Märkte und natürlich die Steigerung der Profite.

Diese Wirtschaftspolitischen Leitlinien werden seit 1994 von der EU-Kommission ausgearbeitet und zwar in Kooperation mit den Zentralbanken und den Finanzministern, bevor sie dem Europäischen Rat zur Beschlußfassung vorgelegt werden. Das Europaparlament bekommt sie nur zur Kenntnis. Sie bilden aber die Leitlinie, an der sich alles in der EU heute orientiert. Einmal angenommen, wacht jeder Staat darüber, daß der Nachbar sie auch anwendet.

Im Dezember 1996 verankerte die Kommission folgendes Ziel in den Wirtschaftspolitischen Leitlinien: »Um die gewünschten Ergebnisse zu erzielen, muß die Lohnskala nach unten gespreizt und dazu die Lohnkosten für gering qualifizierte Tätigkeiten um 20 bis 30 Prozent gesenkt werden, wie dies in den siebziger und achtziger Jahren in den USA passiert ist. Damit diese Maßnahme greift, müssen in Europa die Leistungen für Arbeitslose und die Sozialleistungen entsprechend gekürzt werden, damit die »Armutsfalle« vermieden wird.« So wird die Arbeitslosigkeit zu dem gemacht, was sie immer schon war: zu einer Waffe, um die Löhne zu senken.

»Aktivierung« der Erwerbslosen

Wer ist schuld daran? Natürlich die Arbeitslosen! 1997 auf dem Gipfel in Luxemburg haben die Staats- und Regierungschefs eine Erklärung angenommen, die die Erwerbslosen als »nicht beschäftigungsfähig und wegen ihrer Passivität schuld an ihrer Lage« bezeichnet hat. Die Beschäftigungspolitik der EU konzentriert sich seither darauf, die Erwerbslosen zu aktivieren: Sie sollen selber nachweisen, daß sie sich um eine Stelle bemühen, das Arbeitslosengeld soll davon abhängig gemacht werden; ihr Privatleben wird zunehmend kontrolliert - in Belgien zum Beispiel bekommen Arbeitslose zu Hause Besuch vom Arbeitsamt; es werden ihnen unsinnige Qualifizierungsmaßnahmen und prekäre Jobs zu immer niedrigeren Löhnen zugemutet; ihr Einkommen sinkt damit stetig und sie erhalten keine Chance mehr, aus diesem Teufelskreis herauszukommen.

Auf jedem EU-Gipfel müssen die Regierungen Rechenschaft darüber ablegen, was sie getan haben, um dieser Zielsetzung näher zu kommen. Die EU-Kommission geht dabei jedesmal mehr ins Detail und fragt auch einzelne Kategorien von Erwerbslosen ab: Jugendliche, Alte, Frauen usw. Für jede von ihnen werden besondere Maßnahmen empfohlen. Die Staaten verpflichten sich, die Leitlinien zur Beschäftigungspolitik in ihre nationalen Aktionspläne aufzunehmen. Diese schicken sie dann an die EU-Kommission, die sie beurteilt und ihre Umsetzung kontrolliert, eventuell sogar Sanktionen verhängt.

In jedem Land der EU findet man deshalb heute dieselben Grundzüge der Beschäftigungspolitik. Zunächst geht es darum, das Arbeitslosengeld und die Arbeitslosenhilfe zu senken. Erwerbslose sollen gezwungen werden, jede Arbeit anzunehmen, die wirkungsvollste Drohung ist dabei die mit dem Entzug der Leistung.

Arbeitslose werden genötigt, häufig ihren Beruf zu wechseln. Faktisch handelt es sich bei den ihnen angebotenen Stellen vermehrt um erzwungene Arbeit. Damit ist immer häufiger die Unterschreitung oder Nichtbeachtung von Tarifverträgen verbunden, eine Ausweitung der Flexibilisierung, der befristeten Arbeitsverträge, der ungeschützten Teilzeitarbeit. Mittlerweile müssen wir uns darauf einstellen, daß der Arbeitsvertrag auf 5 Jahre und die lebenslängliche Arbeitsplatzunsicherheit zur Regel werden. Unbefristete Beschäftigungsverhältnisse, eine berufliche Qualifikation auf Lebenszeit und eine fortlaufende Höherqualifizierung in einem Beruf sollen der Vergangenheit angehören.

Ich rede dabei nicht nur von Zielen, die die Kommission sich gesetzt hat, ich rede auch über eine Politik, die bereits Realität ist. In Frankreich versucht der Unternehmerverband Medef gerade, die Arbeitslosenversicherung in der bestehenden Form abzuschaffen. Er hat mit der Gewerkschaft CFDT (das reicht in Frankreich) ein Abkommen unterzeichnet, das besagt: Wer seinen Job verliert, muß mit dem Arbeitsamt einen Vertrag unterschreiben. Darin verpflichtet er sich, seine Qualifikation prüfen zu lassen, sich fortzubilden und unter mehreren Beschäftigungsangeboten eines anzunehmen. Tut er dies nicht, verliert er seine Stütze ganz oder teilweise. Wenn die französische Regierung diesem Projekt zustimmt, bedeutet dies den schwersten Rückschritt seit 50 Jahren. Es entspricht aber genau dem, was die EU-Kommission will.

In vielen Ländern sind Zeitarbeitsfirmen die größten Arbeitgeber geworden. Die staatliche Arbeitsvermittlung wird durch private ersetzt, die privaten Vermittlungsstellen haben gewinnbringend zu arbeiten.

Die Unternehmer werden mehr und mehr von ihrem Anteil an den Lohnnebenkosten befreit. Es wird ein paralleler Arbeitsmarkt geschaffen, wo ungeschützte Beschäftigung an die Stelle der Erwerbslosigkeit tritt. Wer eine solche Arbeit unter Wert nicht annehmen will, wird als nicht beschäftigbar erklärt und verliert die ihm zustehenden Leistungen. Die Staaten befördern eine solche Billiglohnpolitik noch, indem sie Anteile am Lohn oder an den Lohnnebenkosten übernehmen. Für diejenigen, die auf diese Weise eine Arbeit finden, ist das ein Vorteil. Aber wenn es zur Regel wird, befördert es nur die Neigung der Unternehmer, immer noch billigere Arbeitskräfte einzustellen und auch die Mindestlohngrenzen zu unterschreiten. Das nennt die Europäische Union heute »Beschäftigungspolitik«. Das können wir nicht akzeptieren.

Von Lissabon nach Nizza

Das Jahr 2000 ist aber nochmal ein besonderes.

Der Gipfel von Lissabon hat beschlossen, »sich der starren sozialstaatlichen Strukturen« in Europa zu entledigen Tony Blair war ganz glücklich, daß sich die Regierungen in Zukunft weniger um den sozialen Schutz, als um Investitionen in die Neue Ökonomie kümmern werden. Der Kommissionspräsident Romano Prodi hat gelobt, daß die Kommission jetzt das Mandat erhalten hat, »die Nachhaltigkeit der Rentensysteme zu prüfen«. Alle EU-Regierungen sind jetzt bereit, Tony Blairs »dritten Weg« zu gehen. Die öffentlichen Dienste sollen privatisiert werden - dem hat auch der französische Ministerpräsident Jospin zugestimmt.

Uns erfüllt vor allem mit Sorge, daß Maßnahmen beschlossen wurden, den Abbau des Sozialstaats zu koordinieren. Der Gipfel in Lissabon hat dazu beschlossen:

  1. Eine Gruppe hochrangiger Experten wird beauftragt, eine Studie über die Entwicklung der sozialen Sicherungssysteme mit besonderem Augenmerk auf die Tragfähigkeit der Rentensysteme zu entwickeln.
  2. Wie für den Beitritt zur Währungsunion sollen Kriterien für eine neue Sozialpolitik entwickelt werden, qualitative und quantitative Indikatoren, die jeweils die Regierung zum Vorbild nehmen, die am weitesten in der Reduzierung der Sozialausgaben fortgeschritten ist.
  3. Die Wirtschafts- und Finanzminister - nicht die Sozialminister! - sollen über die Einhaltung der neuen Leitlinien zur Sozialpolitik wachen.

Im Sprachgebrauch von Lissabon wird das »Übergang vom Wohlfahrtsstaat zum aktiven Sozialstaat« genannt. Aktiviert werden sollen die Erwerbslosen und Sozialhilfeempfängerinnen. Alle Sozialkassen stehen jetzt unter Beschuß, die Lohnersatzleistungen, die Sozialleistungen, die Familienförderung, die Renten, die Gesundheitssysteme. Als erstes wollen sie an die Renten ran - das spielt auch in der Bundesrepublik eine zentrale Rolle.

Ein anderer Begriff sollte uns in diesem Zusammenhang stutzig machen. Im Zusammenhang mit der »Anpassung« an die Neue Ökonomie ist immer vom lebenslangem Lernen die Rede - parallel zur »lebenslangen flexiblen Arbeitszeit«. Es wird gesagt, man will die Qualifizierung fördern. Gleichzeitig heißt es aber, die Märkte ändern sich so rasch, da muß man sich ständig neu qualifizieren, ohne daß die eine Qualifikation auf der anderen aufbauen würde. In Wirklichkeit geht es also um eine Unternehmerstrategie, die Berufsausbildung der Beschäftigten ständig zu entwerten und die Beschäftigten ständig im Zustand der Nicht-Qualifiziertheit zu halten, deren Qualifikation, kaum daß sie erworben wurde, auch schon wieder verfällt. Diese Unternehmerstrategie, Berufe ebenso wie Arbeitsplätze zu entwerten und abzuschaffen, ist so alt wie der Industriekapitalismus, aber heute wird intensiv und ausgiebig von ihr Gebrauch gemacht. Sie erlaubt, ständigen Druck auf die Löhne auszuüben. Gleichzeitig wird die Ausbildung privatisiert!

In Nizza steht also eine ganze Menge auf dem Spiel. Deshalb ist es für uns wichtig, dort der Stimme der Erwerbslosen und prekär Beschäftigten laut und deutlich Gehör zu verschaffen. Wir müssen die gesamte soziale Bewegung und die Gewerkschaften mobilisieren: Was für die Arbeitsplätze, die Löhne, die Renten, die Sozialleistungen und den Öffentlichen Dienst auf dem Spiel steht, ist zu wichtig, als daß wir es den Neoliberalen überlassen. Seattle hat uns gezeigt, daß nichts unvermeidlich ist. Widerstand ist möglich!

Wir haben zwei Schwerpunkte, die wir in Nizza vortragen wollen:

  1. Wir wollen europaweit die Einführung einer Untergrenze für alle Einkommensarten: Löhne, Sozialleistungen, Renten - damit endlich das Lohn- und Sozialdumping aufhört, das eine der wichtigsten Funktionen der EU heute ist. Das ist vor allem im Hinblick auf die Osterweiterung von Bedeutung;
  2. Wir wollen die Aufnahme sozialer Grundrechte in den neuen EU-Vertrag und wir wollen, daß diese Grundrechte individuell oder kollektiv rechtlich einklagbar sind. Das Recht auf einen Arbeitsplatz und das Recht auf ein Einkommen, von dem man in Würde leben kann, gehört für uns zu den sozialen Grundrechten!

Wir haben gar keine andere Wahl, wir müssen die Betroffenen informieren und mobilisieren. Sonst kommt es so, wie es in einem Szenario der EU-Kommission für das Jahr 2010 heißt. Der Autor der Kommission beschreibt eine Situation, die er sich für die Jahre 2003 bis 2005 erträumt:

»In Anbetracht des wirtschaftlichen Höhenflugs der USA schien Europa keine andere Wahl zu haben als die, die amerikanische Herausforderung anzunehmen - oder sich aus der weltweiten Dynamik auszuklinken. Die politischen Verantwortungsträger entdeckten daraufhin den Wert des freien Unternehmertums und begannen, die Abwege des Sozialstaats zu geißeln. Die falschen Erwerbslosen, die falschen Kranken, die Beschäftigten im öffentlichen Dienst, die Nutznießer aller Art wurden an den Pranger gestellt, sie würden zu Unrecht von den Steuergeldern der anderen unterhalten ... Dank der Senkung der Sozialleistungen und der Aufhebung aller Schutzbestimmungen für Beschäftigung und Entlohnung verfügen die europäischen Unternehmen nunmehr über eine flexible Arbeitskraft und über Lohnkosten, die sie nach Belieben ändern können«

Dieser Prozeß hat bereits begonnen. Geben wir uns die Mittel, ihn aufzuhalten - europaweit. Nur mit gemeinsamen Forderungen der Jugendlichen, Erwerbslosen, Sozialhilfeempfängerinnen, prekär Beschäftigten, Renterinnen werden wir die Dämme halten können, die in Jahrzehnten sozialer Kämpfe im nationalen Maßstab aufgebaut wurden.

Michel Rousseau
16.6.2000
Rede auf der Erwerbslosenkonferenz des Runden Tisches am 17. Juni 00
Übersetzung: Angela Klein

Französisches Original

 

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