Mindesteinkommen und soziale Grundrechte
Die Mobilisierungen der Europäischen Märsche in 2000
Am 9. und 10. Juni wird die Öffentlichkeit eine kleine Premiere erleben. Dann treffen sich die europäischen Unternehmer zu einem medienwirksamen 1500 Mann starken Kongreß, auf dem sie eine Woche vor dem Ratstreffen der EU-Regierungschefs ihre Forderungen an die EU formulieren: vollständige Öffnung aller Märkte in Europa, noch weitere Senkung der Steuern und Abgaben, Beseitigung des »übertriebenen Schutzes« auf den Arbeitsmärkten und Schaffung »effizienter« Arbeitsmärkte. Die EU-Kommission soll die Beschäftigungspolitik in diesem Sinne stärker koordinieren.
Nicht, daß die Unternehmer im allgemeinen mit der Politik der EU unzufrieden wären. Auf den vergangenen Gipfel in Lissabon reagierten sie sogar überaus positiv: »Wir sind glücklich über den neuen Schwung, die hohe Arbeitslosigkeit in der EU durch wirtschaftliche und strukturelle Reformen zu bekämpfen.« Sie beklagen dennoch, die Beschäftigungspolitischen Leitlinien, die seit dem Gipfeltreffen 1997 in Luxemburg regelmäßig vom Europäischen Rat aktualisiert werden und die nur Empfehlungen darstellen, würden von den Mitgliedstaaten zu wenig beachtet. Sie wollen Anfang Juni in Brüssel deshalb öffentlichen Druck machen, damit die Sozialsysteme schneller abgebaut werden.
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Ihre Ankündigung ruft nicht nur die Europäischen Märsche gegen Erwerbslosigkeit und ungeschützte Beschäftigung auf den Plan. Auch Strukturen wie ATTAC und Dritte-Welt-Solidaritätsgruppen rufen am 10. Juni um 16 Uhr zu einer überregionalen Demonstration unter Beteiligung von Erwerbslosen-Delegationen aus Frankreich, Deutschland, Holland und Luxemburg auf. Zuvor organisieren die Europäischen Märsche ein internationales Symposium zum Thema »Mindesteinkommen in Europa«.
Die Einführung einer Grundsicherung war immer eine der drei Hauptforderungen der Märsche, bislang tat man sich jedoch schwer damit, sie in Mark und Pfennig auszudrücken - kein Wunder, dieselbe Forderung muß ja auch in die Drachme, den Escudo und die schwedische Krone, perspektivisch auch in den polnischen Zloty übersetzt werden können. Die Einführung des Euro ab dem 1.Januar 2002 ändert daran nicht viel; die gemeinsame Währung wird nur noch sichtbarer machen, wie stark das Kaufkraftgefälle innerhalb der EU ist. Diesem Mangel wollen die Märsche jetzt entgegentreten. Sie wollen eine unterste Einkommensschwelle in Europa definieren, unter die weder ein Lohn, noch die Sozialhilfe noch die Rente sinken darf. Die Schwelle soll sich orientieren am Reichtum, der in jedem Land erwirtschaftet wird, und an den Forderungen der dort aktiven Erwerbslosen und sozialen Initiativen.
Zum Symposium am 10.Juni sind entsprechende Verbände aus Belgien, Frankreich und Deutschland eingeladen, um darüber detaillierter zu diskutieren. Das Ergebnis soll der europäischen Versammlung der Erwerbslosen unterbreitet werden, die Anfang Dezember (voraussichtlich am 2. und 3.12.) in Paris zusammentrifft, bevor es am 7.12. zur Demonstration nach Nizza geht.
Der Ratsgipfel in Nizza hat diesmal eine besondere Bedeutung: Ähnlich wie 1997 in Amsterdam handelt es sich dabei um eine Regierungskonferenz, die das Vertragswerk der EU verändert. Auf der Tagesordnung stehen die EU-Osterweiterung und die damit im Zusammenhang stehenden institutionellen Reformen der EU sowie ein Grundrechtekatalog, den die EU verabschieden will. Beschäftigungspolitische Themen im eigentlichen Sinne stehen diesmal nicht auf der Tagesordnung - brauchen sie auch nicht, denn inzwischen sind sie zum Tagesgeschäft geworden. Auf dem Ratsgipfel in Luxemburg vor zweieinhalb Jahren haben sich die Regierungschefs darauf geeinigt, im Zwei-Jahres-Rhythmus der EU-Kommission Berichte und Nationale Aktionspläne zur Bekämpfung der Erwerbslosigkeit vorzulegen, die diese dann in einem eigenen Bericht bewertet. Die Pläne und Berichte sind das Herzstück der europäischen Beschäftigungspolitik; ihre Erfüllung wollen die Regierungschefs jährlich im Rahmen eines EU-Ratstreffens überprüfen.
Der Gipfel in Lissabon hat sich das Ziel gesetzt, die Beschäftigungsquote, die in der EU bei 60% liegt, an die der USA und Japans anzugleichen - dort liegt sie bei über 75%. Die Ratsherren tun dies nicht aus Fürsorge um die Beschäftigten, Erwerbstätigkeit gilt ihnen ausschließlich als Wettbewerbsfaktor. Eine hohe Erwerbslosenrate gilt als schlechte Voraussetzung im Wettlauf um den Spitzenplatz der Weltwirtschaft - sie kostet zuviel. Vielmehr gelte es, den »Rohstoff Arbeit« (so das Ratsdokument) optimal auszunutzen. Das ist der Hintergrund, vor dem der Öffentlichkeit immer wieder verkündet wird: Wir wollen in den nächsten fünf bis zehn Jahren die Erwerbslosigkeit halbieren. Tony Blair sprach im März in Lissabon von 20 Millionen Arbeitsplätzen, die EU-weit in nächster Zeit vor allem im Dienstleistungs- und Informationssektor entstehen sollten - überwiegend im Billiglohnbereich, das wurde bereits in früheren Ratsdokumenten dargelegt, die ausdrücklich eine Absenkung der unteren Lohngruppen von 20 bis 30 Prozent forderten.
Damit Erwerbslose miese Jobs aber auch annehmen, müssen auch die Sozialsysteme einer eingehenden Prüfung unterzogen werden. Künftig wird sich ein neu eingerichteter Rat der Arbeits- und Sozialminister darum kümmern, wie die EU aktiv helfen kann, daß die sozialen Leistungen der Mitgliedstaaten einheitlich abgesenkt werden. Aus dieser Ecke haben wir demnächst also Forderungen zu erwarten: In Lissabon war davon die Rede, anstelle der Arbeitslosenhilfe sollten vermehrt Fortbildungs- und Arbeitsprogramme für Beschäftigte und Erwerbslose eingerichtet werden. Die Kosten dafür sollen Beschäfigte selber tragen; Erwerbslosen soll im Fall einer Ablehnung die Stütze entzogen werden.
Es wird nicht mehr lange dauern, da kehren uns die »Reformvorschläge« der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA) als Empfehlungen des Rates aus Brüssel zurück!
Die Europäischen Märsche sind deshalb nicht die einzigen, die den Tagesordnungspunkt »Grundrechtekatalog« auf dem Gipfeltreffen in Nizza dazu nutzen wollen, Arbeit und Einkommen als soziale Rechte einzuklagen und eine eigene soziale Grundrechtecharta vorzulegen. Menschenrechtsorganisationen wie die französische Menschenrechtsliga, Intellektuelle und Gewerkschafter um den Aufruf Bourdieu, Anti-WTO-Gruppen machen dies zu einem Schwerpunkt ihrer Mobilisierung. Auf der europäischen Versammlung der Erwerbslosen in Paris wird es ein Schwerpunktthema sein. Im Anschluß daran ist eine gemeinsame Versammlung zumindest mit den UnterstützerInnen des Bourdieu-Aufrufs geplant - aber hier ist noch vieles im Fluß und vieles auch noch nicht absehbar.
Z.B. die Beteiligung der Gewerkschaften: Es heißt, der Europäische Gewerkschaftsbund habe auf seiner Vorstandssitzung vor dem Gipfel in Lissabon eine Demonstration nach Nizza im Dezember beschlossen, aber das genaue Datum steht noch nicht fest. Der EGB nimmt eine zwiespältige Rolle ein: In Brüssel sitzt er bei der UNICE mit am Tisch, vor dem Gipfel in Nizza bei der Ausarbeitung des Europäischen Grundrechtekatalogs auch. In Porto aber demonstriert er, und in Nizza vielleicht auch. Kritischen GewerkschafterInnen verschafft dies immerhin Spielraum, für andere Inhalte zu mobilisieren.
Eine Fortsetzung kann auch die Zusammenarbeit mit den Flüchtlingsinitiativen erfahren: Der Flüchtlingskongreß in Jena Ende April hat beschlossen, nach Nizza zu mobilisieren und im Vorfeld einen eigenen europäischen Flüchtlingskongreß in Marseille zu organisieren.
Schließlich besteht auch die Möglichkeit, daß sich Anti-WTO-Gruppen diesmal mit in den Protest einreihen: Mobilisierungen gibt es bereits Mitte Juni anläßlich des UN-Sozialgipfels in Genf sowie Ende Juni in Millau auf dem Plateau Larzac, wenn der Vorsitzenden des französischen Bauernverbands, José Bové, vor Gericht gestellt wird.
Es ist absehbar, daß die Demonstration in Nizza thematisch breiter sein wird als die in Amsterdam 1997 und auch breitere gesellschaftliche Kräfte umfassen kann als die in Köln 1999. Eine gute Voraussetzung, um dem Ziel, das der Aufruf von Bourdieu umschreibt, ein Stück näherzukommen: der Schaffung von Generalständen der sozialen Bewegung in Europa.
(PS: Die Generalstände waren die Vertretung der in Stände gegliederten Bevölkerung vor der Französischen Revolution. Aus ihnen ist die Nationalversammlung hervorgegangen.)
Angela Klein
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