Aktionszeitung der Europäischen Märsche gegen Erwerbslosigkeit, ungeschützte Beschäftigung und Ausgrenzung, Oktober 2000

Für soziale Rechte in Europa!

 

Auf der Regierungskonferenz der EU-Staaten, die am 7. und 8. Dezember in Nizza stattfindet, stehen zwei Dinge auf der Tagesordnung: die Revision des EU-Vertrags und die Proklamation einer Grundrechtecharta. Was hat das mit uns zu tun?

  • Der neue EU-Vertrag ändert Arbeitsweise und Zusammensetzung der EU-Institutionen im Hinblick auf die geplante Osterweiterung. U.a. soll ein qualifiziertes Mehrheitsvotum an Stelle des bisherigen Prinzips der Einstimmigkeit eingeführt werden. Eine Entscheidung kann dann nicht mehr per Veto blockiert werden.
    Einige Regierungen sind deshalb vor allem darum besorgt, die Bereiche zu benennen, wo es auf keinen Fall gemeinsame EU-Standards geben darf. Das sind vor allem die sozialen Rechte und die Arbeitsmarktregelungen (Angleichung der Lebensbedingungen, Arbeitszeiten, Lohnniveaus, Sozialsysteme). Gleiche Bedingungen soll es in der EU nur für den Austausch von Waren und Kapital, für den Wettbewerb geben.
    Die EU bekräftigt damit einmal mehr: Sie ist eine Wirtschaftsvereinigung, auf Kosten ihrer BewohnerInnen.

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  • Der neue EU-Vertrag enthält einen besonders perfiden Angriff auf alle Erwerbslose und alle, die von Erwerbslosigkeit bedroht sind: Das Recht auf Arbeitslosengeld wird darin ausgehebelt! Der Vertrag (Art. 137) enthält eine Direktive über die »Bedingungen für den Bezug von Arbeitslosengeld«.
    Über das Mehrheitsvotum sollen auf europäischer Ebene »die Bedingungen für den Leistungsbezug, die Leistungsbegrenzung und die Verfügbarkeit von Erwerbslosen für den Arbeitsmarkt« einheitlich festgelegt werden.
    Wenn diese Direktive angenommen wird, müssen die nationalen Gesetzgebungen den europäischen Vorgaben angepaßt werden!
    Nach allen Entwicklungen der letzten Jahre können wir nicht erwarten, daß die fortschrittlichsten Regelungen des Bezugs von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe zum Vorbild für eine europäische Regelung genommen werden. Im Gegenteil: Die französische Regierung, die derzeit den Vorsitz im Rat der EU innehat, bereitet mit dem französischen Unternehmerverband einen Plan vor, die Arbeitslosenversicherung so umzubauen, daß der Leistungsbezug auf sechs Monate beschränkt wird, ein Qualifizierungsschutz entfällt und die Arbeitslosigkeit jedes/r Einzelnen über personelle Betreuer kontrolliert wird. Zynischerweise nennt sich das Projekt »Plan zur gesellschaftlichen Neugründung«.
     
  • Mit den sozialen Grundrechten läuft es nicht viel besser. Der Grundrechtekatalog, der in Nizza verkündet werden soll, fällt in vieler Beziehung hinter die nationalen Verfassungen, hinter bestehende EU-Vereinbarungen und selbst hinter die Allgemeine Menschenrechtserkärung von 1948 zurück. Da gibt es kein Recht auf Arbeit mehr, nur noch ein Recht zu arbeiten. Es gibt kein Recht auf ein Mindesteinkommen, auf angemessene Entlohnung, kein Recht auf Wohnung und auf Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen. Flüchtlingen wird nicht einmal der Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention gewährt. Die Freiheit der Presse und ihr Pluralismus werden nur »respektiert«, nicht garantiert.
    Die Grundrechtecharta wird vielfach als Vorform einer möglichen europäischen Verfassung dargestellt. Eine solche Verfassung würde alles zunichte machen, was in den letzten 50 Jahren an sozialen Errungenschaften erkämpft wurde!
     
  • 1997 haben die Europäischen Märsche gegen Erwerbslosigkeit, ungeschützte Beschäftigung und Ausgrenzung zum erstenmal darauf hingewiesen: Erwerbslose, prekär Beschäftigte, Arme, Behinderte, Flüchtlinge und MigrantInnen sind aus diesem Europa ausgeschlossen! Die Wirtschaft brummt, die Gewinne explodieren. Noch nie wurde soviel Reichtum produziert. Trotzdem sind immer noch 18 Millionen Menschen ohne Arbeit und die Zahl der Armen ist auf 60 Millionen gestiegen!
    Aber die EU hält es nicht für nötig, aktiv etwas dagegen zu tun und den Reichtum zur Schaffung neuer Arbeitsplätze und zur Angleichung der Lebensverhältnisse nach oben zu verwenden. Statt dessen wird die Lohn- und Sozialkonkurrenz gnadenlos verschärft - angeblich um Arbeitsplätze zu schaffen.
    Diese Politik ermuntert die Unternehmer, gesicherte Arbeitsplätze in ungesicherte und schlecht bezahlte umzuwandeln. Damit wird nur die Armut gefördert!
     
  • Die EU-Verträge sind seit Maastricht zu einem Knüppel geworden, in Europa mit Brachialgewalt die Zerstörung der sozialen Sicherungssysteme, Deregulierung der Märkte, Senkung des Lohnniveaus und Privatisierung von Dienstleistungen durchzusetzen. Die EU ist ein ebenso willfähriges Instrument zur Durchsetzung der kapitalistischen Globalisierung wie die WTO, der IWF und die anderen internationalen Finanzinstitutionen. Der Kampf gegen die EU-Verträge ist deshalb Teil des allgemeineren Kampfs gegen die Diktatur der Finanzmärkte.
    In Nizza sind deshalb auch solche Kräfte dabei, die in Seattle, Washington und Prag demonstriert haben. Und es ist der Europäische Gewerkschaftsbund dabei: Die abhängig Beschäftigten haben nicht weniger als die Erwerbslosen den drohenden sozialen Rückschritt zu fürchten.

Das wollen wir in Nizza erreichen:

  • Die Direktive über den Bezug von Arbeitslosengeld (Art. 137) darf nicht Teil des EU-Vertrags werden.
  • Der Grundrechtekatalog darf nicht verkündet werden. In den EU-Vertrag gehören die umfassenden sozialen Rechte und die Angleichung der Lebensverhältnisse nach oben. Die Rechte müssen individuell und kollektiv einklagbar sein.
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