Für soziale Rechte und Mindeststandards

Die Hälfte des Wohlstands

 

Das Europäische Sekretariat der Märsche hat auf seinem Treffen Ende Mai eine Marschrichtung für die Mobilisierung nach Nizza festgelegt. Das Bild, das sich dabei ergibt, wird zusehend komplexer, weil die Mobilisierungen der Erwerbslosen mehr und mehr von den Aktionen anderer gesellschaftlicher Kräfte begleitet werden und sich mit ihnen teilweise überlappen. Die Märsche haben bei ihren Planungen versucht, dem Rechnung zu tragen.

Die erste Aufgabe des Treffens war die Verständigung über eine Formel für eine Einkommensuntergrenze in Europa, unter die niemand fallen darf, weder Erwerbslose, noch Sozialhilfeempfängerinnen, noch abhängig Beschäftigte und RenterInnen. In der Auswertung des Kölner Gipfels 1999 und unserer Gegenmobilisierungen mußten die Märsche u.a. feststellen, daß ungeachtet unserer Proteste die noch vor dem Amsterdamer Gipfel eingeleitete Politik des koordinierten, systematischen Lohn- und Sozialdumpings in Europa fortgesetzt und verschärft würde. Daraus entsprang die Forderung nach einer Präzisierung einer unserer drei Grundforderungen, die wir in Florenz aufgestellt hatten - die nach einer Grundsicherung für alle. Es mußte eine Einkommensuntergrenze für alle BürgerInnen Europas beziffert werden, unter die niemand fallen darf. Diese Untergrenze muß für alle Einkommensarten gelten, damit der zunehmenden Konkurrenz zwischen Vollzeit-, Teilzeit- und gar nicht Beschäftigten endlich ein Riegel vorgeschoben wird. Eine von den belgischen Euromärschen geleitete Arbeitsgruppe hat sich die Arbeit gemacht, auf der Basis von sehr viel und sehr aktuellem statistischen Material eine Formel auszuarbeiten, die den sehr großen Einkommensunterschieden in der EU gerecht wird und gleichzeitig eine gemeinsame Forderung ermöglicht.

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Auf dem Treffen Ende Mai wurde nun ein Vorschlag verabschiedet, der die Grundlage für ein europäisches Symposium am 10. Juni anläßlich des UNICE-Gipfels und für die Beratungen der Europäischen Erwerbslosenversammlung Anfang Dezember in Paris bilden soll. Das Symposium versucht im Rahmen der Mittel, die den Märschen zur Verfügung stehen, eine Art Expertenberatung: es werden an ihr Wissenschaftler und Fachleute aus Belgien, Deutschland und Frankreich teilnehmen. Im Anschluß wird der Text breit verteilt und zur Diskussion gestellt; die Erwerbslosenversammlung im Dezember wird abschließend darüber befinden.
Die Formel, die die Märsche gefunden haben, geht über die Erwerbslosenbewegung hinaus. Sie besagt in aller Deutlichkeit, daß es nicht reicht, »nur« für den Erhalt und die Aufstockung der Sozialleistungen (Sozialhilfe, Arbeitslosenhilfe, Arbeitslosengeld) zu kämpfen. Unternehmerverbände und Regierungen verfolgen eine langfristig angelegte Strategie der Lohnsenkung, die sie nur durchsetzen können, wenn sie gleichzeitig das Niveau der Sozialleistungen herabsetzen. Sie haben dieses Ziel in den großen wirtschaftspolitischen Leitlinien für die EU im Dezember 1996 folgendermaßen formuliert: »Um die gewünschten Ergebnisse zu erzielen, muß die Lohnskala nach unten erweitert werden, das setzt eine Senkung der Lohnkosten für gering qualifizierte Tätigkeiten um 20 bis 30 Prozent voraus - wie in den USA in den 70er und 80er Jahren. Außerdem erfordert eine solche Maßnahme, will sie in Europa greifen, eine entsprechende Senkung des Arbeitslosengelds und der Sozialleistungen, um die »Armutsfalle« zu vermeiden.«
Löhne sind flexibler, sie lassen sich leichter senken als die gesetzlich fixierten Sozialleistungen. Deshalb die ständige Propaganda des »Lohnabstandsgebots«: Die Unternehmer senken die Löhne und machen dann Druck, nun müßte auch die Sozialhilfe folgen, sonst hätten die Menschen nicht genügend Anreize, arbeiten zu gehen. Die von ihnen beklagte »Armutsfalle« stellen sie selber auf.
Einer solchen Strategie des »Teile und Herrsche« kann man nicht begegnen, wenn man sich nur einen Aspekt, nur einen Kreis von Betroffenen herausgreift. Es bedarf einer gemeinsamen Mobilisierung von Gewerkschaften, Erwerbslosen und Rentnerverbänden, um der Abwärtsspirale koordiniert etwas entgegenzusetzen. Bildlich gesprochen heißt das: Gegen die Strategie der allgemeinen Senkung von Löhnen und Sozialleistungen müssen wir europaweit Dämme aufbauen. Wir haben es mit drei Dämmen zu tun: Renten, Sozialleistungen, Löhne. Es reicht nicht, nur einen von diesen zu verteidigen; wir müssen alle drei im Blick haben. Die Märsche haben eine Untergrenze nur für die Erwerbslosen und Sozialhilfeempfängerinnen beziffert; Mindestlohn und Mindestrente zu definieren, ist Sache der Betroffenen und ihrer Organisationen. Aber die Dynamik des Ansatzes ist die der Suche nach einer systematischen Zusammenarbeit mit Rentnerverbänden und Gewerkschaften für die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns und einer Mindestrente.
Auf der Erwerbslosenversammlung in Paris wird es also nicht mehr nur allein um die Frage gehen: Wie bringen wir unsere Forderung in der Demonstration in Nizza am besten rüber? Es wird auch darüber zu reden sein, wie wir im Anschluß an diese Demonstration Bedingungen für eine europaweite Kampagne zu dem Thema schaffen können.

Das Thema, das die breiteste Plattform für die Demonstration nach Nizza bietet, werden freilich die sozialen Rechte sein. Auf der Tagesordnung des EU-Gipfels steht die Verabschiedung eines Grundrechtekatalogs, wobei sich die EU-Gremien bisher jedoch sträuben, soziale Rechte darin aufzunehmen und noch mehr, sie zu individuell einklagbaren Rechten zu erklären. Neben den Europäischen Märschen gibt es eine ganze Reihe von Initiativen, die sich dieser Frage annehmen und genauso wie die Märsche fordern, daß die sozialen Grundrechte in den Vertrag aufgenommen und rechtlich einklagbar sein müssen: dazu gehört der Kreis um den Aufruf von Bourdieu, das Europäische Bürgerforum, die französische Menschenrechtsliga und mit ihnen eine ganze Reihe von Nicht-Regierungsorganisationen wie auch die Gewerkschaften. Die Planungen der Märsche gehen dahin, zwischen der großen Versammlung von Espace Marx und ATTAC, die vom 30. November bis zum 2. Dezember in Paris stattfindet, und der Erwerbslosenversammlung, die am 2. Dezember in Paris beginnt, ein großes gemeinsames Forum um das Thema »Sozialcharta« zu veranstalten. Es soll vor einer breiten Medienöffentlichkeit inhaltlich auf einen Punkt bringen, warum alle beteiligten Kräfte wenige Tage später eine Karawane bilden, die auf Nizza zurollt und die Stadt besetzt.

Das Spektrum, das zur Demonstration aufruft, ist in diesem Jahr noch breiter als in Köln. Der Europäische Gewerkschaftsbund will in Nizza demonstrieren, hat aber noch keinen Termin fixiert. Die Organisationen der Flüchtlinge und der Ohne-Papiere werden vorab einen eigenen Kongreß in Marseille organisieren und anschließend nach Nizza kommen. Die sozialen NGOs sind mit von der Partie - es gibt Interesse aber auch bei solchen Gruppen, deren Schwerpunkt der Widerstand gegen Globalisierung und Freihandel sind. ATTAC ruft zur Demo nach Nizza auf. Diese Organisationen tragen in das, was bisher eine breite und europäische Mobilisierung für soziale Rechte ist, Problemstellungen über Weltwirtschaft, das Verhältnis zur sog. Dritten Welt und viele andere »globale« Probleme. Sie haben dafür nicht nur in Seattle und Washington einen Vorlauf gehabt, sie werden ihn auch in Europa haben: in der zweiten Junihälfte in Genf, Ende Juni in Millau und Ende September in Prag. Wie sich die Verbindung inhaltlich herstellen wird, wird sich mit der Zeit ergeben, in jedem Fall bedeutet es auch für die Europäischen Märsche eine neue Dimension und eine neue Herausforderung.
Die Euromärsche haben in Paris beschlossen, daß sie sich nach Maßgabe ihrer Kräfte an diesen Mobilisierungen beteiligen.

Angela Klein

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